Zehn Jahre Hartz IV:Immer den Staat im Nacken

Wartemarken Wartemarkenautomat

Wartemarken-Automat im Arbeitsamt Düsseldorf: Hartz IV beherrscht den Alltag vieler Betroffener.

(Foto: Gero Breloer/dpa)

Die Hartz-IV-Reform hat die Republik drastisch verändert. Ihre Befürworter sagen: zum Besseren. Doch die Teilhabe am normalen Leben ist für Millionen Betroffene fast unmöglich geworden. Eine Bestandsaufnahme.

Von Hans von der Hagen und Benjamin Romberg

Anfangs dachte Mareike Homberg, das sei alles ein seltsames Versehen des Lebens. Irgendetwas, das rasch vorüberzieht. Sie macht einen patenten Eindruck: Sie war Mitarbeiterin in einem Umweltinstitut, untersuchte belastete Böden und verseuchtes Wasser. Obendrein studierte sie Chemie. Allein - als sie fertig war, brauchte sie keiner mehr. Ihr Fehler: Sie war Ende 40. Nicht etwa, weil sie das Studium in die Länge gezogen hätte, sondern weil sie spät damit angefangen hatte. Selbst schuld, könnte man sagen. Wirklich? Das Erreichte war Homberg, die nicht möchte, dass ihr echter Name veröffentlicht wird, nach 20 Jahren im Beruf nicht genug. Und als die nahe Universität anbot, mit Nachweis von Berufserfahrung auch ohne Abitur zu studieren, machte sie das sofort. Klar, ein Risiko war das späte Studium schon. Das wusste sie. Doch dass man mit Mut derart im Nichts enden könnte, will sie nicht wahrhaben. Jetzt ist sie in Ende fünfzig. Engagiert sich an vielen Stellen ehrenamtlich. Nur einen Job, den hat ihr keiner gegeben. Der Lohn für zwei Jahrzehnte Berufsleben plus Studium: die Verachtung, die in diesem Land jedem Hartz-IV-Empfänger entgegenschlägt. Oft genug von den Sachbearbeitern auf dem Amt - und auf der Straße sowieso.

Homberg kennt Hartz von Anfang an. Sie sagt: "Früher war der Staat immer so weit weg, doch jetzt sitzt er mir im Nacken. Nun weiß ich, wie Deutschland sich anfühlt." Die spärlichen Wege in ihrem Leben sind durch den Hartz-IV-Satz von derzeit 391 Euro für Alleinstehende programmiert: Der Gang zu den Behörden, zum Discounter um die Ecke, zum Second-Hand-Laden. Abweichungen davon sind meist unbezahlbar. Das Geld vom Staat reicht fürs bloße Überleben. Ein Mehr, eine Teilhabe am Leben gibt es nicht mehr. Als ihr Freunde zu Weihnachten Geld aufs Konto überweisen, nimmt es der Staat ihr weg.

Einmal plant sie, sich selbständig zu machen. Will, begleitet von einer Stiftung, Kindern Lust auf Naturwissenschaften machen. Dafür präsentiert sie im Jobcenter einen Businessplan und gibt darin eine Prognose ab, wann zum ersten Mal ein Gewinn auf ihrem Konto landen könnte. So muss sie das machen, sonst geht der Businessplan nicht durch. Starthilfe vom Jobcenter bekommt sie nicht, weil die Prognose so unsicher ist. Stattdessen einige Zeit drauf einen Anruf: Das Jobcenter ist dran und teilt Homberg mit, dass man ihr als Selbständige ja nun kein Geld mehr überweisen müsse. "Sie werden doch in einem halben Jahr Gewinn machen", sagt der zuständige Berater. "So steht es in ihrem Businessplan." Homberg ist entsetzt. Fragt nach: "Haben Sie mir gerade gesagt, dass ich in 14 Tagen die Miete nicht mehr zahlen kann und nichts zu essen habe?" Ja, genau darum geht es. Was sie zu dem Zeitpunkt nicht weiß: Die Behörden behalten Monate im Voraus den möglichen Gewinn ein, damit auf keinen Fall zu viel Geld auf dem Konto landet. Homberg verhandelt erneut: Am Ende werden ihr ein halbes Jahr lang nur jeweils rund 180 Euro überwiesen. Pure Existenzangst. Sie gibt den Plan für die Selbständigkeit auf.

Manchmal geht sie zur Tafel. Dort gibt es warmes Essen und Lebensmittel, deren Haltbarkeit abgelaufen ist. Das ist eine gute Sache. Natürlich. Und trotzdem: Wenn sie ihre Tüte nach Hause bringt, dann fühlt sie sich so, wie deren Inhalt: gammelig. Homberg sagt: Mit Hartz IV sehe ich die Welt nur noch von unten. Leben bedeutet für sie: Existenz sichern und Hartz IV kaschieren. Denn schlimmer als alles andere ist der totale Respektverlust, den das Almosen vom Staat mit sich bringt.

Grafik: Zahl der Bezieher von Sozialgeld und Hartz IV in Deutschland

Rohe Bürgerlichkeit

"Arbeitslosigkeit zerstört", sagt der Bielefelder Sozialforscher Wilhelm Heitmeyer. Die Alltagsstruktur, den Status, den Respekt der anderen - und damit das Selbstbewusstsein. Die Wirkung von Arbeitslosigkeit werde dramatisch unterschätzt. Heitmeyers Diagnose nach zehn Jahren Hartz IV: In alle Lebensbereiche habe sich eine autoritäre Form des Kapitalismus hineingefressen - selbst in jene Areale, die eigentlich nicht ökonomisch organisiert seien, etwa die Familie. Der Kapitalismus interessiere sich nicht für Integration, sondern für Konkurrenz. Die Folge: Menschen werden nach Effizienz und Nützlichkeit beurteilt, nicht aber in ihrer Gleichwertigkeit. Hartz IV in der jetzigen Form signalisiere: Hier ist jemand nicht mehr brauchbar. Darum beginne mit dieser Form der Sozialhilfe die Zone der Verachtung.

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