Manche politischen Entscheidungen entfalten erst spät ihre Wucht, das lässt sich gerade in der Bau- und Wohnungspolitik beobachten. In den Neunzigerjahren verkauften viele Städte und Gemeinden kurzerhand ihre kommunalen Wohnungen, sie erzielten Millionen und trugen damit ihre Schuldenberge ab. Ende des Jahrzehnts schaffte die rot-grüne Bundesregierung dann das eigenständige Bauministerium ab, das Ressort musste fortan hinter anderen wie Verkehr, Umwelt oder zuletzt Inneres zurücktreten. Und die Föderalismusreform von 2006 übergab den Bundesländern den sozialen Wohnungsbau, den diese - mit Ausnahmen wie Hamburg - allenfalls mit lauem Einsatz vorantrieben.
Das Ergebnis lässt sich heute an den Mietpreisen in den Wohnungs-Annoncen und an der Länge der Schlangen bei Besichtigungsterminen ablesen. Viele kommunale Siedlungen mit niedrigen Mieten sind verschwunden, die Zahl der Sozialwohnungen sinkt Jahr für Jahr, in Deutschland fehlen Hunderttausende Wohnungen für Niedrig- und Normalverdiener. Wer heute in einer deutschen Großstadt eine Wohnung finden muss, der darf sich auf einen monatelangen Stresstest einstellen.
Wohnraum ist kein Alltagsgut wie Chips oder Vorhangstangen, von einer Unterkunft hängt die Möglichkeit ab, mit der Familie zusammenzuleben, zur Ruhe zu kommen, eine neue Stelle anzutreten, Kinder auf der gewohnten Schule zu belassen und vieles mehr. Das rechtfertigt politische Eingriffe. Doch die Politik hat sich in den vergangenen Jahrzehnten zu kurzsichtig gezeigt. Kommunen stellten den schnellen Gewinn eines Verkaufs über die langfristige Sicherheit von Mietern, Bundesländer sparten sich die Ausgaben für Sozialwohnungen und verwendeten das Geld lieber für Projekte, die mehr politisches Prestige versprachen.
Bauen dauert Jahre - umso vorausschauender muss die Planung sein
Zugegeben, die Entwicklung auf dem Wohnungsmarkt war nicht vorhersehbar. Vor 15 Jahren rechneten Fachleute und Politik damit, dass im alternden Deutschland immer weniger Menschen leben werden. Tatsächlich aber stieg die Zahl der Einwohner zwischen 2010 und 2020 durch Zuwanderer um drei Millionen. Es kamen nicht nur Asylsuchende, die sich oft besonders schwertun, eine Wohnung zu finden. Die meisten Menschen zogen aus europäischen Ländern zu, darunter viele EU-Bürger mit gutem Verdienst, die den Wettbewerb um die begehrten Quartiere umso mehr befeuerten.
Seit vielen Jahren betonen Politiker und Wirtschaftsvertreter, wie wichtig die Zuwanderung von Fachkräften ist, die europäische Freizügigkeit, ein humaner Umgang mit Geflüchteten. In der Bau- und Wohnungspolitik allerdings hat man nicht beherzigt, dass all diese Menschen auch unterkommen müssen. So wichtig Zuwanderung aus dem Ausland - und auch die Wanderung innerhalb Deutschlands - ist, sie darf nicht dazu führen, dass Familien und andere Mieter mit eher kleinem Geldeingang aus den Städten verdrängt werden. Darin liegt eine große soziale Sprengkraft.
Welche Konsequenzen soll die Politik daraus ziehen? Bis neue Wohnungen gebaut sind, dauert es in der Regel Jahre, umso vorausschauender muss die Planung sein - und umso schneller, wenn der Mangel so groß ist wie derzeit. Wer gegen künftige Überraschungen besser gewappnet sein will, der muss gerüstet sein: mit möglichen Baugebieten, mit Plänen in der Schublade, mit Wohnungen, die leer stehen.
Leer stehende Wohnungen sind ein besonders heikler Punkt, denn sie kosten Geld und bringen Politikern und Unternehmen Kritik ein. Doch sie können in Regionen, die Menschen anziehen, ein Puffer sein, um Exzesse am Mietmarkt abzufedern, wie man sie derzeit in Köln, München oder Berlin erleben kann.
Die Erfahrung der vergangenen Jahre zeigt zudem, wie wichtig es ist, Zuwanderung so gut wie möglich zu steuern. Es kann nicht nur darum gehen, leere Arbeitsstellen zu besetzen oder genügend Integrationskurse anzubieten. Es müssen auch genügend Wohnungen da sein, um soziale Verwerfungen zu vermeiden - mit Geschichten von Schrottimmobilien voller Migranten oder abgehängten Stadtteilen, wie es sie vor Jahren in Duisburg und anderswo schon gab. Wer solche Vorkehrungen versäumt, wird die Folgen womöglich schon bald mit Wucht zu spüren bekommen.