Süddeutsche Zeitung

Wirtschaftswissenschaft nach der Finanzkrise:Einfach mal anders denken

Immobilienblase geplatzt, Griechenland und Spanien am Abgrund - das hat auch die Ökonomen in die Krise gestürzt. Die Experten suchen nach einer neuen Weltanschauung. Eine Debatte mit den Wirtschafts-Stars Stiglitz und Soros in Berlin zeigt: Sie können sich nur schwer von alten Dogmen lösen.

Catherine Hoffmann, Berlin

Es ist blamabel: Die Masse der Volkswirte hat das Platzen der amerikanischen Immobilienblase nicht kommen sehen. Ihre mathematischen Modelle konnten nicht vorhersagen, was passiert, wenn die Finanzmärkte verrücktspielen, Banken zusammenbrechen und ganze Volkswirtschaften in den Abgrund gerissen werden. Weit verbreitet ist daher der Eindruck, dass die Volkswirtschaftslehre in der Krise versagt, sie sogar mit verursacht hat. Die Wissenschaft, die doch so gern mit der Präzision eines Computers gearbeitet hätte, ist verwirrt und orientierungslos.

"Paradigm lost", die verlorene Weltanschauung, war denn auch das Motto einer Konferenz in Berlin. Dort tagten in der vergangenen Woche einige der weltweit angesehensten Ökonomen, unter ihnen die Nobelpreisträger Joseph Stiglitz und Amartya Sen, um sich über ihre Disziplin Gedanken zu machen.

Eingeladen hatte das Institute for New Economic Thinking (Inet). Die Denkfabrik wurde im Herbst 2009 von dem wohl berühmtesten Spekulanten der Welt, George Soros, gegründet, der einst erfolgreich gegen die Bank of England und das Pfund gewettet hatte. Soros reagierte damit auf die tiefste Finanz- und Wirtschaftskrise seit der Großen Depression, die zugleich zur Sinnkrise einer ganzen Zunft wurde. Fünf Jahre nach ihrem Ausbruch suchen die Ökonomen noch immer nach den großen Lehren aus dem Debakel.

Soros immerhin wirbt für eine kühne Idee: Die Europäische Zentralbank (EZB) solle eine Zweckgesellschaft gründen, die nur dazu da ist, alle Schulden der Euro-Länder aufzukaufen, die 60 Prozent ihrer Wirtschaftsleistung übersteigen. Dies ist die Schuldengrenze, die im Fiskalpakt verankert wurde. Die EZB solle den Ländern dann die Zinszahlungen erlassen, wenn diese gut wirtschaften. Der Vorteil: Damit bekämen die gehetzten Staaten Luft zum Atmen.

Der Milliardär stellt allerdings klar, dass dieser Schritt allein nicht reicht: Er forderte mehr finanziellen Ausgleich zwischen den wirtschaftlich starken und den schwachen Ländern, zwischen denen mit Defiziten im Außenhandel und jenen mit Überschüssen. Um die Kluft zu schließen, solle Geld von Nord nach Süd fließen. "Die hoch verschuldeten Euro-Mitglieder brauchen dringend mehr Nachfrage aus Deutschland, um eine Rezession zu vermeiden", sagte Soros. Ohne mehr Wachstum würden die Schuldenquoten weiter steigen. "Sparsamkeit hat in Deutschland funktioniert, unter den jetzigen Bedingungen bringt sie Unglück über Europa", ist der Investor überzeugt.

Was Soros und seine Denker zur Euro-Krise sagen, klingt also allenfalls für deutsche Ohren revolutionär. Der Finanzinvestor verschrieb schlicht keynesianische Rezepte, die im Kern darauf hinauslaufen, die Euro-Krise mit noch mehr Geld - und Schulden - zu lösen. Viele andere Redner taten es ihm gleich.

Wer nur aufs Sparen setzt, sitzt in der Falle

Auch Stiglitz, einst Chefvolkswirt der Weltbank, hält den Weg, den Europas Regierungen zur Bewältigung der Krise eingeschlagen haben, für falsch. Es sei aussichtslos, sich nur durch eisernes Sparen aus der Klemme befreien zu wollen. Das rigorose Kürzen von Staatsausgaben verstärke nur den Abschwung. Weil die Wirtschaftsleistung stärker schrumpfe als die Staatsausgaben, steige die Schuldenquote in vielen Krisenländer weiter. Mit anderen Worten: Wer nur aufs Sparen setzt, sitzt in der Falle.

Stattdessen favorisiert Stiglitz gerade im Abschwung Investitionen, um das Wachstum zu fördern und der Schuldenmisere zu entkommen. Diese Konjunkturprogramme sollten allerdings über höhere Steuern finanziert werden. Als Beispiel nennt er die der Bankenlobby verhasste Finanztransaktionsteuer, deren Einführung auf Euro-Ebene scheiterte. Wie Soros spricht sich auch Stiglitz für eine Transferunion aus, um strukturschwache Regionen zu fördern.

Nun stellt kein Ökonom in Abrede, dass die Schulden in vielen Industrienationen auf ein gefährliches Niveau geschnellt sind. Schuldenabbau sei also nicht nur wünschenswert, sondern notwendig. Der Abbau der aufgeblähten Staatshaushalte und Bankbilanzen sei aber "eine Frage des richtigen Zeitpunkts", glaubt der Generalsekretär der OECD, Angel Gurría. Die Regierungen sollten aufhören, den Ratingagenturen gefallen zu wollen, indem sie die Schulden möglichst schnell reduzieren. Das Ergebnis dieser Politik sei "katastrophal". Sparen um jeden Preis verschärfe außerdem die Kluft zwischen Arm und Reich in den Krisenländern.

"Austerität allein hilft nicht" - das sagt ausgerechnet der führende Kopf einer Institution, die jahrelang ökonomische Orthodoxie gepredigt hat. Jetzt übt sie sich offenkundig in neuem ökonomischen Denken. An die Adresse der EZB gerichtet, wünscht sich Gurría jedenfalls: "Im Zweifel bitte lieber eine zu laxe Geldpolitik." Inflation bereitet dem Mexikaner "keine schlaflosen Nächte", bekennt er. Die Gelassenheit teilt er mit vielen etablierten Ökonomen, die sich bei Inet engagieren.

Nur einer hielt auf der Berliner Konferenz dagegen: EZB-Ratsmitglied Jörg Asmussen. Das Beste, was eine Notenbank für eine prosperierende Wirtschaft tun könne, sei für stabile Preise zu sorgen und - auch das - die Banken mit Geld zu versorgen. Es war eine einsame Mission in ideologischem Feindesland. Asmussen bekannte denn auch: "Notenbanken und neues ökonomisches Denken - das ist ein Widerspruch in sich."

Die Auseinandersetzung zeigt: Ein neues ökonomisches Paradigma ist noch nicht gefunden. Noch beherrschen alte Dogmen die Debatte. Dabei wünschen sich Inet-Initiatoren vor allem dies: Dass sich Ökonomen und Notenbanker mehr um die Bedürfnisse der Menschen kümmern, für Gerechtigkeit und gegen Ungleichheit kämpfen. "Die Aufgabe der Wirtschaft ist es, den Wohlstand möglichst vieler Menschen zu steigern, nicht das Bruttoinlandsprodukt zu erhöhen", sagt Stiglitz. "An diesem Anspruch sind die USA und Deutschland gescheitert."

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SZ vom 17.04.2012/ros
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