Süddeutsche Zeitung

Konjunktur:Patt der Wirtschaftsweisen

Die wichtigsten wirtschaftspolitischen Berater der Bundesregierung streiten offen über Schulden und Investitionen.

Von Alexander Hagelüken

Das ist sehr ungewöhnlich: Der ökonomische Sachverständigenrat zeigt sich gespalten, was er der Bundesregierung und der EU bei Schulden und Investitionen empfehlen soll. Während zwei der sogenannten Wirtschaftsweisen etwa an der europäischen Schuldengrenze von 60 Prozent des Bruttoinlandsprodukts rütteln, wollen die anderen beiden daran auf jeden Fall festhalten.

Jahrzehntelang war der Rat fest in der Hand marktliberaler Ökonomen. Ein einsamer Keynesianer äußerte seine abweichende Meinung in Minderheitsvoten. Das hat sich geändert - manche sagen, es fange schon beim Titel des neuen Gutachtens an: Transformation gestalten - Bildung, Digitalisierung und Nachhaltigkeit. "Das hört sich fast an wie eine Gewerkschafts-Broschüre", scherzt jemand aus dem Umfeld des Rats.

Bei der wirtschaftlichen Entwicklung geben sich die Weisen optimistischer als andere Konjunkturforscher: Die deutsche Wirtschaft werde nach dem Corona-Schock in diesem Jahr um 2,7 Prozent wachsen, erwartet der Sachverständigenrat. Das geht aus dem Jahresgutachten der Weisen hervor, das am Mittwoch vorgestellt werden soll und der SZ vorliegt. Zuerst hatte die FAZ darüber berichtet. Die 2,7 Prozent sind weniger, als das Beratergremium bisher erwartet hatte - allerdings sind die Wirtschaftsweisen damit noch zuversichtlicher als die fünf führenden Konjunkturinstitute, die für 2021 nur noch mit einem Plus von 2,4 Prozent beim Bruttoinlandsprodukt rechnen.

"Die Weltwirtschaft erholt sich zunehmend von der Corona-Krise, ihre Auswirkungen prägen jedoch weiterhin die wirtschaftliche Entwicklung", heißt es im Gutachten der Weisen. Nachdem vor allem Lieferprobleme den Aufschwung in diesem Jahr bremsen, fällt die Erholung dafür 2022 nach Ansicht des Sachverständigenrats kräftiger aus: Dann soll die Wirtschaft um 4,6 Prozent wachsen. Genau wie die Institute erwarten die Wirtschaftsweisen, dass die Inflation nach ihrem starken Anstieg in diesem Jahr dann wieder deutlich unter drei Prozent liegt.

SPD, Grüne und FDP suchen finanzielle Spielräume

Das Gutachten fällt just in die Zeit, in der SPD, Grüne und FDP über eine Koalition verhandeln - und das knapp 500-seitige Gutachten ist hochpolitisch. Denn die Ampel sucht finanzielle Spielräume. Gerade SPD und Grüne wollen deutlich mehr staatlich investieren als bisher, die FDP aber keine Steuern erhöhen und die Schuldenbremse nicht antasten. Was empfehlen da die Weisen? Unterschiedliches.

An zwei wichtigen Punkten gibt es ein Patt zwischen den eher marktliberal argumentierenden Veronika Grimm und Volker Wieland auf der einen Seite - und Monika Schnitzer und Achim Truger, für die "eine Kreditfinanzierung zukunftsbezogener öffentlicher Ausgaben" ökonomisch sinnvoll sein kann. "Öffentliche Investitionsgesellschaften unterliegen nach herrschender Rechtsauffassung nicht der Schuldenbremse und könnten gezielt zur Finanzierung genutzt werden", schreiben die beiden da etwa. Grimm und Wieland argumentieren deutlich konservativer.

Deutliche Unterschiede gibt es auch bei den europäischen Fiskalregeln. Grimm und Wieland plädieren dafür, die normalen Grenzen spätestens im Jahr 2023 wieder einzuhalten. Schnitzer und Truger halten es dagegen für "sehr problematisch", höher verschuldete Staaten wie Italien durch die Regeln zu zwingen, ihre Schulden relativ bald auf 60 Prozent des Bruttoinlandsprodukts zu reduzieren. Über die Schuldengrenzen debattieren gerade auch die EU-Staaten. Während manche auf eine Lockerung drängen, gelten andere als strikte Gegner. Beide Seiten dürften interessiert vernehmen, dass die Meinung des wichtigsten ökonomischen Beratergremiums der Bundesregierung nun nicht mehr so eindeutig gegen Lockerungen ist, wie das jahrzehntelang der Fall war.

Interessant ist, was die Forscher - diesmal gemeinsam - zu den Folgen der Corona-Krise feststellen: Minijobber, Geringqualifizierte und Selbständige seien durch die Corona-Krise besonders betroffen. Gravierend seien auch die Einschränkungen der Bildungsangebote gewesen. Einen Lichtblick aber gebe es: Die hohen staatlichen Ausgaben hätten ein stärkeres Auseinanderklaffen von Arm und Reich verhindert. Die Ungleichheit der verfügbaren Einkommen "dürfte nicht angestiegen sein", heißt es.

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