Wirtschaft bestimmt das Leben der Menschen. Doch wie diese Wirtschaft in Zahlen erfasst wird, hat kurioserweise über Jahrhunderte niemanden interessiert. Schon gar nicht die Politik. Philipp Lepenies hat ein Buch* über die bewegte Geschichte des Bruttoinlandsproduktes geschrieben. Er ist Ökonom und Politologe und arbeitet derzeit am Institute for Advanced Sustainability Studies in Potsdam.
Herr Lepenies, das Wort Bruttoinlandsprodukt ist sperrig und staubig - und trotzdem dominiert die Zahl das Leben von Milliarden Menschen? Wie schafft sie das?
Philipp Lepenies: Es ist tatsächlich die mächtigste Kennzahl der Menschheitsgeschichte. Sie bildet die gesamte Kraft eines Landes in einer einzigen Zahl ab. Jedes Gut, jede Dienstleistung - alles was hier hergestellt wird, fließt in die Berechnung ein. In Deutschland liegt das Bruttoinlandsprodukt, kurz BIP, aktuell bei 2,7 Billionen Euro.
In den achtziger Jahren machten viele erstmals Bekanntschaft mit dem Bruttosozialprodukt - Dank des gleichnamigen Songs der Gruppe Geier Sturzflug. Sie hingegen reden vom Bruttoinlandsprodukt. Um Verwirrung zu vermeiden: Was ist der Unterschied?
Nur eine Kleinigkeit: Beim Bruttoinlandsprodukt zählt man alle Güter und Dienstleistungen zusammen, die im Inland entstehen - und zwar nur dort. Beim Bruttosozialprodukt würde man hingegen die Erzeugnisse deutscher Firmen im Ausland ein- und die von ausländischen Firmen in Deutschland herausrechnen. Die Umstellung wurde in den neunziger Jahren international vorgenommen weil die Politiker wissen wollten: Was entsteht in dem Land, für das wir zuständig sind.
Bis Geier Sturzflug davon singen konnte, war es allerdings ein weiter Weg. Manische Einzelgänger, erbitterte Streits und ein Weltkrieg verhalfen dieser Zahl zu ihrem Siegeszug. Wo fängt man da an?
Am besten beim Engländer William Petty. Der trug im 17. Jahrhundert als Erster Zahlen über ein Land zusammen. Petty war Anatom und einer der ersten Naturwissenschaftler. Er glaubte daran, dass man mit Zahlen die Vorgänge in einem Land so verstehen könnte, wie er selbst durch seine Autopsien die Vorgänge im menschlichen Körper besser verstehen lernte. Petty interessierte, wie viel Geld in den einzelnen Gesellschaftsschichten im Umlauf war und wie viel die Krone davon abschöpfen konnte. Aber seine Statistiken waren hanebüchen.
Hanebüchen?
Einige, die seine Berechnungen damals sahen, waren überzeugt, dass die Zahlen ein neutrales Abbild ökonomischer Vorgänge lieferten. Petty hatte aber Hintergedanken: Er war begüterter Landbesitzer und wollte mit seinen Statistiken zeigen, dass seine Klasse eigentlich weniger Steuern zahlen müsste, die arbeitende Bevölkerung aber umso mehr. Das Beispiel Petty zeigt, dass hinter Zahlen immer bestimmte Annahmen stecken.
Woher hatte Petty seine Zahlen?
Er hat sie größtenteils erfunden. Darum wurden seine Berechnungen am Ende doch nicht so ernst genommen.
Mehr als 250 Jahre tat sich dann auch nicht mehr viel in solchen Fragen ...
Das ist kurios. Zwar versuchten immer wieder Einzelne, eine Nationaleinkommensstatistik zu berechnen, aber ohne offiziellen Auftrag. Bis zur Weltwirtschaftskrise 1929 hat sich nie eine Regierung wirklich dafür interessiert, wirtschaftliche Vorgänge in Zahlen zu erfassen. Man sah keinen Nutzen darin.
Doch dann kam noch ein Naturwissenschaftler ...
Colin Clark. Ein Einzelgänger, der kurioserweise in den zwanziger Jahren am gleichen College in Oxford war, wo auch Petty als Hochschullehrer gearbeitet hatte. Er war Chemiker und gerade er wurde einer der bedeutendsten Vordenker des Bruttoinlandsprodukts. Er war unzufrieden mit der Art und Weise, wie die Ökonomen die Fragen der Weltwirtschaftskrise behandelten - nämlich vollkommen ohne Daten.
Was unterschied ihn von Petty?
Clark schlug im Jahr 1932 erstmals vor, sich statistisch aus drei unterschiedlichen Perspektiven der Wirtschaft zu nähern. Wie viel wird in einer Volkswirtschaft produziert? Wie viel wird konsumiert und wie sieht es mit der Verteilung der Einkommen aus? Am Ende sollte unter jeder dieser drei Säulen die gleiche Zahl stehen. Bis heute wird das so gemacht.
Fand er Gehör in der Politik?
Nein. Er emigrierte frustriert nach Australien.
Wann war erstmals vom Bruttosozialprodukt die Rede?
Das Bruttosozialprodukt, wie wir es kennen, entstand schließlich in den USA, im Krieg. Erstmals wurde es in den USA 1942 öffentlich erwähnt. Die Zahl markierte einen gewaltigen Schwenk in der Ökonomie. Der Fokus rückte von dem Einkommen hin zur Produktion.
Es ging also nicht mehr darum, was die Leute in der Tasche hatten, sondern es zählte, was produziert wurde. Im Krieg vor allem, wie viele Panzer, Schiffe, Flugzeuge und Gewehre. Diese Konzentration auf das Materielle wird allerdings bis heute kritisiert.
Der Historiker Russel Weigley sprach von einem "Bruttosozialproduktkrieg". Wie konnte das Wissen über den Zustand der Wirtschaft im Krieg helfen?
Mit Eintritt in den Krieg wurde die Rüstungsproduktion zum wichtigsten wirtschaftspolitischen Projekt. Die Zahlen zum Bruttosozialprodukt ermöglichten eine effiziente Kriegsplanung. In Amerika hieß es später, die Kenntnis des Bruttosozialprodukts hätte das Leben der Soldaten mehrerer Infanteriedivisionen gerettet.
Wenn die Daten für den Krieg so wichtig waren, spielten sie auch für die Deutschen eine Rolle?
Die Deutschen hatten im Krieg lange überhaupt keine wirkliche Ahnung davon, was genau produziert wurde. In der Kriegsplanung der Nationalsozialisten gab es eine unglaubliche Ämter- und Verantwortlichkeitsvielfalt mit zahlreichen Rivalitäten. Albert Speer versuchte nach der Niederlage von Stalingrad, das besser zu koordinieren. Dazu beauftragte er Rolf Wagenführ, einen Mitarbeiter des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung und ausgewiesenen Industriestatistiker. Aber im Grunde war es schon zu spät. Etwas Ähnliches wie das Bruttosozialprodukt hatten die Nazis nicht.
Wie kam denn dann das Bruttosozialprodukt nach Deutschland?
Durch die Amerikaner. Die wollten sich nach Ende der Kampfhandlungen im Sommer 1945 ein Bild davon machen, was ihre Bombardements in der Wirtschaft angerichtet hatten. Dazu brauchten sie einen Vergleichswert aus der Zeit vor den Bombardierungen. Schnell erkannten sie, dass ihnen nur Wagenführ helfen konnte, weil allein er die Daten hatte. Das Problem war allerdings, dass die Russen ihn längst beauftragt hatten, für die Sowjetzone eine Statistik aufzubauen. Zudem wohnte er in Ostberlin.
Wie kamen sie dann an Wagenführ heran?
Die Amerikaner entschlossen sich, Wagenführ in einer Geheimaktion zu kidnappen. Man hat ihn damals regelrecht aus seinem Ehebett gezerrt und in die Nähe nach Frankfurt gebracht. Mit Wagenführs Hilfe konnten die Amerikaner erstmalig das Bruttosozialprodukt für Deutschland berechnen. Die Aktion führte aber zu diplomatischen Verwicklungen und Wagenführ wurde ein paar Tage später in den Osten zurückgebracht.
Seit dem Zweiten Weltkrieg gibt es nun das Bruttosozialprodukt weltweit. Wie hat es sich durchgesetzt?
Die westlichen Länder, die nach Ende des Krieges im Rahmen des Marshallplans Geld bekommen wollten, wurden von den Vereinigten Staaten gezwungen, diese Berechnungsmethode zu verwenden. So sollte eine Vergleichbarkeit ermöglicht werden. Die Ausbreitung des Bruttosozialprodukts war dieser Notwendigkeit geschuldet - und nicht etwa einer Begeisterung für diese Art der Wirtschaftserfassung. Die Durchsetzung des Bruttosozialprodukts war fast schon ein imperialer Akt.
Sähe die Welt ohne Bruttosozialprodukt anders aus?
Schwer zu sagen. Aber zumindest wurde damals mit dem Bruttosozialprodukt eben mehr eingeführt als nur eine Rechenmethode. Mit dem Bruttosozialprodukt kam auch die Idee des Wirtschaftswachstums in die Politik. Und der damalige Administrator des Marshallplans sagte einmal, dass es vor allem darum ging, den westlichen Ländern zu vermitteln, dass sie so werden könnten wie die USA. Man verband mit erhöhter Produktion Modernisierung. Deswegen ist die Steigerung des BIP für viele immer noch Allheilmittel für alle möglichen Krisen. Diese Vorstellung hat sich seitdem trotz aller Kritik gehalten. Vielleicht auch deswegen, weil der Welt ein ähnlich mächtiges Rezept bislang nicht eingefallen ist.
* Die Macht der einen Zahl von Philipp Lepenies, Edition Suhrkamp, 16 Euro