Süddeutsche Zeitung

Wirtschaftswachstum:Aufschwung macht faul

Lesezeit: 3 min

Die Wirtschaft brummt, doch gleichzeitig verfallen Straßen und Schulen. Die Politik schaut tatenlos zu - dabei muss sie jetzt dringender denn je an die Zukunft des Landes denken.

Kommentar von Alexander Hagelüken

Die Bürger haben sich daran gewöhnt, von Wirtschaftsfunktionären eher nölige Einlassungen zur Realität zu hören. Die Geschäfte laufen schlecht, die Löhne sind zu hoch, die Politik hilft zu wenig - irgendwas hat die Firmenlobby meist zu meckern. Martin Wansleben, Geschäftsführer der Industrie- und Handelskammern, machte davon gerade eine bemerkenswerte Ausnahme. Als dieser Tage ein neuerliches Wachstum der deutschen Wirtschaft gemeldet wurde, setzte Wansleben die Nachricht in ihren sehr positiven Kontext: Das Bruttoinlandsprodukt nehme seit vollen drei Jahren ununterbrochen jedes Quartal zu. So etwas sei seit der Wiedervereinigung erst einmal vorgekommen. Also einmal in einem Vierteljahrhundert.

Angesichts dieser Dimension erscheint Wanslebens Äußerung gleich etwas weniger spektakulär. Nein, nicht mal Wirtschaftsfunktionäre können derzeit ernsthaft behaupten, ihre Geschäfte liefen schlecht. Das birgt allerdings bei allem Positiven auch eine große Gefahr: Saturiert von den guten Zahlen vernachlässigen die Arbeitgeber und vor allem die Politiker bestimmte Anstrengungen für die Zukunft des Landes. Und das könnte das Wachstum in einiger Zeit empfindlich schwächen.

Zunächst mal überrascht es ja, dass die deutsche Volkswirtschaft überhaupt so unbeirrt wächst. Seit Jahren ist von immer neuen Risiken die Rede - von einem ökonomischen Kollaps Chinas über einen Flächenbrand durch den Brexit bis zu einem protektionistischen Eissturm durch Donald Trump. Seit Jahren verzeichnen deutsche Firmen trotzdem immer mehr Umsatz. Denn Chinas Wirtschaft kollabierte nicht, der Brexit schadet berechtigterweise vor allem Großbritannien und Trump zetert viel, ohne größere Handelssanktionen zu verhängen. Und so sind die Prognosen auch für dieses Jahr positiv. Einige Forscher erwarten mehr als zwei Prozent Wachstum, das hat es dieses Jahrzehnt noch kaum gegeben. Sie sehen auch das Jahr 2018 optimistisch.

Bewahrheiten werden sich derlei Voraussagen aber nur, falls sich die erwähnten Risiken nicht doch noch materialisieren. Der Internationale Währungsfonds warnt gerade wieder vor der rapide zunehmenden Verschuldung in China, die sowohl die dortige Volkswirtschaft als auch die Finanzmärkte destabilisieren könnte. Und bei Donald Trump weiß ohnehin keiner, was ihm als nächstes einfällt. In Panik muss trotzdem niemand verfallen. Denn zum einen gibt es keine akuten Anzeichen eines weltwirtschaftlichen Schocks, der die Exportnation Deutschland in die Knie zwingen würde. Zum anderen verdankt sich der Aufschwung der vergangenen Jahre weniger den Exporten - sondern dem heimischen Konsum.

Ja, die Deutschen geben mehr aus. Nullzinsen machen traditionelles Sparen derzeit auch wenig lohnend. Ein ebenso wichtiger Grund dürfte die Stabilität sein. Die deutsche Wirtschaft wächst ja praktisch seit der Finanzkrise vor zehn Jahren ohne nennenswerte Delle. Deshalb fürchten kaum Deutsche um ihren Job, und entsprechend sorglos konsumieren sie. Das wird aber nur so bleiben, wenn die Löhne weiter steigen. Gerade jetzt, da die Inflation deutlich steigt, bedarf es wuchtiger Lohnsteigerungen, damit die Bundesbürger wirklich mehr Geld im Portemonnaie haben, das sie ausgeben können. Anders als Wirtschaftsfunktionäre gern suggerieren, sind die Löhne nicht zu hoch - sondern nach der großen Zurückhaltung der Nullerjahre immer noch zu niedrig.

Die Politik ruht sich aus, dabei müsste sie jetzt den Wohlstand sichern

Die Unternehmensvertreter sollten in einem weiteren Punkt umdenken. Denn sie investieren in Deutschland zu wenig. Damit erodieren sie die Basis für den Aufschwung der Zukunft, auch wenn sie das selbst noch nicht bemerken.

Ja, weder laufen die Geschäfte schlecht, noch sind die Löhne zu hoch. Nur in einem Punkt ist das übliche Genöle der Wirtschaftslobby berechtigt: Die Politik hilft tatsächlich zu wenig. Denn auch der Staat müsste deutlich mehr investieren als bisher. In Deutschland verfallen zu viele Straßen und Schulen. Das streng in Gymnasiasten und übrige Kinder separierende Bildungssystem erschwert den sozialen Aufstieg und die Produktion von ausreichend Fachkräften. Und die digitale Infrastruktur lässt zu wünschen übrig.

All diese Rahmenbedingungen muss die Politik drastisch verbessern, um den Aufschwung möglichst lange zu gewährleisten. Früher oder später wird es doch zu einem weltwirtschaftlichen Einbruch kommen, der die Bundesrepublik erfasst. Das können deutsche Unternehmen und Politiker kaum verhindern. Sie können aber den Blick nach innen richten und ihr Land in den bestmöglichen Zustand versetzen, um den Wohlstand zu sichern.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.3633774
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 21.08.2017
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.