Wirtschaftstheorie:Freihandel tut not

Wirtschaftstheorie: Porträt von David Ricardo

Porträt von David Ricardo

(Foto: imago/Collection Leemage)

Vor 250 Jahren wurde David Ricardo geboren. Der Klassiker der Nationalökonomie war auch ein erfolgreicher Börsenhändler.

Von Nikolaus Piper

Grenzenloser Handel macht Angst, gerade in wohlhabenden Ländern. Im Oktober 2015 nahmen mindestens 150 000 Menschen in Berlin an einer Großdemonstration gegen TTIP und Ceta teil, die geplanten Freihandelsabkommen der EU mit den USA und Kanada. Das waren wesentlich mehr Demonstranten als die, die im März 2022 für die Solidarität mit der Ukraine auf die Straße gingen. TTIP und Ceta würden die Ökologie, Arbeitnehmerrechte und sogar die Demokratie gefährden, hieß es damals. Inzwischen haben die Proteste ihr Ziel erreicht: Donald Trump, ohnehin kein Freund des Freihandels, hat TTIP längst den Garaus gemacht.

Widerstand gegen den Freihandel gab es auch schon vor mehr als 200 Jahren in England. Im Jahr 1815 waren es Großgrundbesitzer, die die britischen Inseln vor billigem Getreide aus dem Ausland "schützen" und so ihr Einkommen mehren wollten. Das Ergebnis waren die berüchtigten "Corn Laws", die den Markt abschotteten und das Brot teuer machten. Besonders Mittelschichten und Arbeiter litten unter den hohen Preisen, was zu heftigen Protesten führte. Am 16. August 1819 nahmen bei Manchester mehrere Zehntausend Menschen an einer Demonstration für den Freihandel und gegen die Korngesetze teil. Soldaten lösten die Kundgebung in einem blutigen Exzess auf, 15 Menschen wurden getötet. Der Vorfall ging als "Peterloo-Massaker" in die Geschichte ein. Erst 1846 schaffte das Parlament in London die infamen Gesetze ab.

Die Korngesetze waren eine unrühmliche Episode in der Geschichte Englands. Für die Entwicklung der Wirtschaftswissenschaften sollten sie jedoch von zentraler Bedeutung werden, denn in der Auseinandersetzung mit ihnen entstand die moderne Außenhandelstheorie. Und die hat vor allem mit einem Mann zu tun: David Ricardo. Der Ökonom, der vor 250 Jahren in London geboren wurde, kämpfte leidenschaftlich gegen die Gesetze und entwickelte eine Theorie, die diesen Kampf begründete und die im Prinzip bis heute gilt.

Ricardo, neben Adam Smith und Thomas Malthus, einer der Klassiker der Nationalökonomie, zeigte, dass Außenhandel für ein Land selbst dann von Vorteil ist, wenn alle Waren günstiger im Inland produziert werden könnten. In seinem berühmt gewordenen Beispiel erklärte er dies am stark vereinfachten Beispiel des Handels zwischen England und Portugal: Beide Länder können Wein und Bekleidung produzieren. Bei beiden Waren ist Portugal günstiger als England, bei Wein ist der Vorsprung jedoch viel größer als bei Kleidern. Deshalb sollte sich Portugal auf Wein spezialisieren, England auf Bekleidung, dann profitieren beide. Der Nobelpreisträger Paul Samuelson hat diese "Theorie der komparativen Kostenvorteile" später in seinem Lehrbuch so verallgemeinert: "Wenn sich von zwei Ländern jedes auf die Produktion derjenigen Güter spezialisiert, bei denen es die größte relative Leistungsfähigkeit besitzt, lohnt sich der Handel für alle Beteiligten. In beiden Ländern steigen die Reallöhne." Es ist die Lehre von den Vorzügen der Arbeitsteilung, konsequent zu Ende gedacht.

1815 konnte er sich aus dem Geschäft zurückziehen

David Ricardo wurde am 18. April 1772 in London geboren. Seine Eltern waren sephardische Juden aus Amsterdam, deren Vorfahren die Inquisition im 16. Jahrhundert aus Portugal vertrieben hatte. Ricardos Vater Abraham Israel war kurz vor Davids Geburt mit der Familie nach London gezogen und arbeitete als Broker an der Börse. Schon mit 14 begleitete David seinen Vater und lernte das Geschäft mit Wertpapieren von Grund auf. Als er 21 war, kam es jedoch zum Bruch mit der Familie. Der junge Mann heiratete Priscilla Anne Wilkinson, eine Quäkerin, und konvertierte selbst zu den Unitariern, einer protestantischen Freikirche. Der Vater enterbte ihn, weshalb David sofort auf eigenen Beinen stehen musste. Er wurde schnell ein ungewöhnlich erfolgreicher Börsenhändler. John Henderson, Autor einer großen Ricardo-Biografie, vermutet, dass Ricardos Leistung "vor allem mit der Tatsache zu tun hat, dass er in einer jüdischen Enklave aufwuchs und nicht im Mainstream der englischen Gesellschaft. Als Außenseiter war er in der Lage, den Schleier von Gebräuchen und Traditionen zu durchdringen, der das Wirtschafts- und Sozialsystem Englands bedeckte."

An der Börse verdiente Ricardo sein Geld vor allem damit, dass er die Anleihen der Regierung bei den Anlegern platzierte. Wegen der napoleonischen Kriege war der Finanzbedarf Londons riesig, der Schatzkanzler brauchte einen vertrauenswürdigen Broker. Nach einigen Berichten soll Ricardo den Ausgang der Schlacht bei Waterloo vorausgeahnt und, anders als die meisten anderen, auf einen Sieg der Alliierten gewettet haben. Historiker bezweifeln den Wahrheitsgehalt dieser Geschichte jedoch inzwischen wegen mangelnder Belege. Jedenfalls war Ricardo nach 1815 so vermögend, dass er sich aus dem Geschäft zurückziehen konnte. Er erwarb einen Landsitz namens Gatcombe Park in Gloucestershire und wohnte dort mit seiner Familie. Heute gehört das Anwesen der englischen Krone und ist Wohnsitz von Prinzessin Anne.

Ricardo wurde 1819 als Vertreter des Wahlkreises Portarlington das erste Parlamentsmitglied jüdischer Herkunft. Als Abgeordneter erwarb er sich den Ruf eines liberalen Reformers. Er ging gegen den damals üblichen Kauf von Parlamentsmandaten an (auch er selbst hatte für seinen Sitz noch bezahlen müssen). Er schlug vor, zum Abbau der riesigen Schuldenlast Englands aus den Kriegen gegen Napoleon eine Vermögensteuer einzuführen, allerdings vergeblich. Ein anderer Vorschlag Ricardos wurde erst 1946 verwirklicht: Er wollte aus der Bank of England, die damals ein Privatunternehmen war, eine normale Notenbank machen - im Besitz des Staates, aber unabhängig von dessen Entscheidungen. Vor allem aber kämpfte er gegen die Korngesetze, zu seinen Lebzeiten ohne Erfolg.

Großen Einfluss hatte auch Ricardos Erklärung der Grundrente

Er hatte jetzt auch Zeit, um sich noch mehr mit Nationalökonomie zu befassen. Ricardo hatte nie eine Universität besucht und angeblich eher zufällig seine Leidenschaft für das Fach entdeckt, als ihm 1799 eine Ausgabe des "Wohlstands der Nationen" von Adam Smith in die Hände fiel. Sein eigenes Hauptwerk "Grundsätze der politischen Ökonomie und der Besteuerung" erschien 1817 in London und wurde sofort ein großer Erfolg.

Ricardos Ideen prägten Generationen Ökonomen, zum Teil bis in die Gegenwart hinein. Am meisten Einfluss hatte - neben der Theorie des komparativen Kostenvorteile - Ricardos Erklärung der Grundrente. Für die klassischen Ökonomen war es zunächst gar nicht selbstverständlich, dass jemand Geld nur dafür bekam, dass er Grund und Boden besaß. Sie glaubten, allein menschliche Arbeit könne Wert schaffen; Karl Marx hat seine Arbeitswertlehre von Ricardo übernommen. Die Grundrente konnte so nicht erklärt werden.

Ricardos Lösung war das Phänomen der Knappheit. Wäre in einem Staat fruchtbares Land im Überfluss vorhanden, würde einfach so viel Land genutzt, wie für die Ernährung der Bevölkerung notwendig ist, Land hätte dann keinen Preis. Da Land aber in Wirklichkeit knapp ist, müssen auch schlechtere Böden unter den Pflug genommen werden. Sie bringen weniger Ertrag, erfordern mehr Aufwand und bestimmen so den Preis für Getreide. Die Eigentümer der besten Böden haben diesen Aufwand nicht und bekommen trotzdem den Marktpreis. Die Differenz ist die Grundrente. Der österreichische Ökonom Heinz D. Kurz beschreibt Ricardos Neuerung so: Adam Smith habe die Grundrente mit der "Freigiebigkeit der Natur" erklärt, Ricardo habe erkannt, dass die Ursache im Gegenteil der "Geiz der Natur" ist.

David Ricardo konnte das Leben und Arbeiten auf seinem Landsitz nicht lange genießen. Am 11. September 1823 starb er im Alter von nur 51 Jahren an den Folgen einer Mittelohrentzündung.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: