Süddeutsche Zeitung

Wirtschaftsprognosen:Minus Dingsbums Komma Sonstwas

Deutschland und seine Wirtschaftsprognosen: Die trügerische Genauigkeit der Mathematik - eine kleine Reise durch Medien und Massenpsychologie.

Detlef Esslinger

Redet zum Beispiel Horst Seehofer vor Unternehmern über die Krise, will er natürlich zeigen, wie bodenständig er ist; also sagt er, dass sein Vater Bauarbeiter war, dessen Grundregel lautete: "Wenn's der Firma gutgeht, geht's mir auch gut."

Dabei könnte Seehofer es nun belassen, er müsste die Bemerkung nicht noch ausschmücken, oben am Pult in der Wappenhalle der Münchner Messe. Kommt er nun zum Ende, werden endlich der Schrobenhausener Spargel und das Filet vom Milchkalb serviert. Aber die eine Pointe hier muss noch sein: "Studierten Ökonomen ist diese Grundregel natürlich viel zu einfach!"

Gerhard Schröder wusste schon, an welche Instinkte er appellierte, als er im Wahlkampf vor vier Jahren den Steuerrechtler Paul Kirchhof den "Professor aus Heidelberg" nannte.

Programmierter Lacherfolg mit "Herrn Sinn"

Ein Gewerkschaftsboss, der seine Funktionäre unterhalten will, muss sogar nur "Herr Sinn" sagen. Seine Zuhörer wissen, dass damit Hans-Werner Sinn, der Chef des Münchner Ifo-Instituts, gemeint ist, und sie werden lachen.

Neulich auf der Maikundgebung ging Hubertus Schmoldt von der Chemiegewerkschaft noch einen Schritt weiter und sagte, es sei "unerträglich und lächerlich zugleich, wie diese neunmalklugen Wirtschaftsprofessoren ihre Kaffeesatzlesereien als wissenschaftliche Gutachten verkaufen".

Es hört sich ja auch nicht selten nach Kaffeesatz an. Wie lautete die Wachstumsprognose, die acht Institute noch im vergangenen Oktober abgaben, für das Jahr 2008, das damals nur noch zweieinhalb Monate hatte? 1,8 Prozent sagten die Forscher in ihrem sogenannten Herbstgutachten voraus - am Ende waren es nur 1,3. Dann der Januar.

Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) rechnete für das gerade begonnene Jahr mit einem Minus von einem Prozent; wer das für viel zu optimistisch hielt und eher einen Rückgang von fünf Prozent erwartete, dem warf Klaus Zimmermann, der Chef, noch im Februar vor, zu übertreiben - bevor er im April dann eine neue Prognose abgab: minus 4,9.

Das Beeindruckende ist dabei, mit welcher Gewissheit die Ökonomen jederzeit auftreten und mal dies, mal das verkünden. Ben Bernanke, der frühere Wirtschaftsprofessor in Princeton und heutige Chef der amerikanischen Notenbank, sagte mal, das Wissen über ökonomische Zusammenhänge sei inzwischen so weit fortgeschritten, dass größere Wirtschaftskrisen ausgeschlossen werden könnten.

Von Missverständnissen geprägt

Hans-Werner Sinn, der Ifo-Chef, antwortete im Oktober 2007 auf die Frage nach einer Bankenkrise: "Ich glaube nicht, dass die Banken das Hauptproblem sind."

Wenn man ihn heute in seinem Münchner Büro besucht und ihm mit dem Herbstgutachten kommt, an dem sein Institut beteiligt war, wer also auf die Diskrepanz zwischen Prognose und Realität hinweist, dem sagt Sinn: "Die Schärfe dieser Krise haben wir nicht vorausgesehen. Der plötzliche Absturz der Weltwirtschaft sprengte jeglichen Rahmen."

Das Verhältnis zwischen Öffentlichkeit und Wirtschaftswissenschaft ist seit langem von Missverständnissen geprägt. Wenn Wissenschaftler eine in eine Zahl gegossene Prognose vorlegen, nimmt ein großer Teil des Publikums diese Zahl wörtlich.

Lesen Sie auf der zweiten Seite, warum die Wirtschaftsforscher nicht auf die Idee kommen, ihre Methoden zu erklären.

Es hält die Prognose für eine Prophezeiung und wundert sich dann, dass die nicht so eintrifft. Ein Professor, der sich gegen Mindestlöhne ausspricht, darf damit rechnen, in der Öffentlichkeit als "neoliberal" bezeichnet zu werden; im Fall des Professors Sinn wird er das Stigma auch nicht dadurch los, dass er mit derselben Vehemenz wie der DGB-Vorsitzende eine strenge Regulierung der Banken verlangt.

Umgekehrt kommen Wissenschaftler nicht wirklich auf die Idee, ihre Methoden zu erklären - oder kann sich wer vorstellen, dass ein Wirtschaftsforscher seine Prognose so vorträgt: "Glauben Sie bitte nicht, dass wir ein Wachstum von exakt 1,8 Prozent annehmen! Das ist nur ein Mittelwert aus unseren Berechnungen. Das tatsächliche Wachstum kann auch bis zu 0,8 Prozent niedriger oder höher liegen, dies ist jedenfalls die Schwankungsbreite, die wir seit Jahren erleben."

Sendungsbewusstsein

Nun gut, der Wissenschaftler wäre verrückt, wenn er so auftreten würde - keine Zeitung würde eine Prognose drucken, bei der zugegeben wird, dass 1,8 auch 1,0 oder 2,6 heißen kann.

Wirtschaftsforscher hingegen brauchen Aufträge für ihre Institute, sie wollen Bücher verkaufen, die sie fürs große Publikum geschrieben haben, und Sendungsbewusstsein haben sie auch; das ist so legitim wie der Wunsch von Politikern, wiedergewählt zu werden, oder der von Journalisten, große Artikel zu schreiben.

Doch es ist nun mal so: Es gab im Sommer 2008 zwar immer wieder leise Anzeichen für eine Krise, aber ein Ökonom im August konnte nicht verlässlich wissen, dass sich der amerikanische Finanzminister im September weigern wird, die Bank Lehman Brothers zu retten.

Fragwürdiges Beurteilungskriterium

Und wie soll einer heute, im Juni 2009, verlässlich vorhersehen, ob die deutsche Bundesregierung nicht doch noch ein drittes Konjunkturpaket beschließt, ob der Ölpreis steigt (und vielleicht auch noch der für Kupfer), ob der Herbst mild wird oder auf der Welt noch ein Krieg ausbricht?

Klaus Zimmermann, der DIW-Chef, sagt: "Das Bild, dass Ökonomen immer alles ganz genau wissen, ist ein Zerrbild." Es gilt der Satz Winston Churchills: Prognosen sind schwierig, vor allem die, die in die Zukunft gerichtet sind.

Man sollte also darüber nachdenken, ob es überhaupt sinnvoll ist, Ökonomen nach Prognosen zu beurteilen. Niemand wird seinen Arzt wechseln, nur weil der einem jetzt nicht sagen kann, ob man in einem halben Jahr Krebs haben wird.

Der Fußball-Bundestrainer Löw hat vor einem halben Jahr erklärt, er könne sich Hoffenheim in der nächsten Saison in der Champions League vorstellen - soll das heute heißen, dass Löw leider keine Ahnung von Fußball hat?

Der DIW-Chef Zimmermann schlug vor einem halben Jahr vor, eine Zeitlang auf Prognosen zu verzichten: Weil die Finanzmärkte in den gängigen Konjunkturmodellen nicht abgebildet seien und weil immer pessimistischere Prognosen die Krise bloß verschärften.

Lesen Sie auf der dritten Seite, für welche Wirtschaftsthemen sich die Medien vorrangig interessieren.

Seine Fachkollegen haben ihn dann beleidigt darauf hingewiesen, wer auf diese Circa-Einschätzungen alles angewiesen sei: der Staat für seine Steuerschätzung, Unternehmer für die Planung von Investitionen, Arbeitgeberverbände und Gewerkschaften für Tarifverhandlungen. Zimmermanns Konsequenz: Schon im Januar legte er selbst wieder die nächste Prognose vor, das war die mit dem Minus von einem Prozent, die er dann später sehr korrigieren musste.

Die Frage ist, was Ökonomen im Voraus erkennen sollen, wenn sie ihrem Fach Ehre machen wollen. Dazu muss man sie vielleicht zunächst vom Podest herunterholen, und berücksichtigen, dass auch Ökonomen Menschen sind, so wenig komplett wie ihre Zeitgenossen. Das Beispiel dazu liefert August-Wilhelm Scheer.

Scheer war drei Jahrzehnte lang Professor für Wirtschaftsinformatik an der Universität des Saarlandes, wohlhabend wurde er durch den Aufbau des Software-Unternehmens IDS Scheer.

"Eine Blase ist schwer zu erkennen, wenn man sich in ihr befindet"

Scheer besitzt seit Jahren ein Haus in Florida. Weil die Grundsteuer dort nach dem jeweils aktuellen Wert des Hauses berechnet wird, lässt der Staat es Jahr für Jahr neu bewerten. Immer war der Wert gestiegen, 2008 hatte er sich schließlich verdoppelt.

Scheer erzählt, wie er sich darüber freute, wie er irgendwann den Wertzuwachs als normal empfand: ein Bescheid des Staates, was will man mehr, da schlägt auch beim Professor der Bauch nicht Alarm. Sein Fazit: "Eine Blase ist schwer zu erkennen, wenn man sich in ihr befindet."

Hans-Werner Sinn hat ein neues Buch veröffentlicht: "Kasino-Kapitalismus - wie es zur Finanzkrise kam, und was jetzt zu tun ist." Er beschreibt darin, wie die geringen Eigenkapitalquoten der Banken dazu führten, dass sie sich wie Glücksritter aufführten: "Wer kein Eigenkapital hat, haftet nicht, und wer nicht haftet, zockt."

Sinn zeichnet den Weg ins Desaster in seinem Buch so präzise nach, dass die Frage auf der Hand liegt, warum er dieses Buch nicht schon vorher geschrieben hat.

Schnell in Fahrt

Mit dieser Frage bringt man Sinn schnell in Fahrt. Er springt auf, wirft eines seiner früheren Bücher auf die Besuchercouch, erzählt von Vorträgen und Fachaufsätzen, schließlich schickt sein Mitarbeiter noch Literatur per Kurier ins Büro, alles, um zu belegen: Seit Jahren hat Hans-Werner Sinn geschrieben und gewarnt, seit Jahren debattiert die Wirtschaftswissenschaft dieses eine Thema: "Aber es ist uns nie gelungen, damit in die Öffentlichkeit vorzudringen!"

Dort war Sinn zum Sozialstaat, zum Arbeitsmarkt, zur Konjunktur gefragt. Medien und Publikumsverlage interessieren sich für Themen, die jetzt aktuell sind; solche, die vielleicht erst in zwei, drei Jahren virulent werden, kommen nur ausnahmsweise vor.

Ökonomen arbeiten mit mathematischen Modellen. Wenn Volkswirte untersuchen, welche Wirkung Steuern auf Investitionen haben oder ob Mütter durch das neue Elterngeld schneller in den Beruf zurückkehren, dann fußt ihre Arbeit stark auf solchen Modellen, heute noch mehr als vor zwanzig, dreißig Jahren.

Lesen Sie auf der dritten Seite, welche Schwächen die mathematischen Modelle der Wirtschaftswissenschaften haben.

Das ist einerseits ein Fortschritt, weil dies die Entwicklung der Ökonomie vom Glaubens- zum Wissensfach weiter vorangetrieben hat. Andererseits täuschen die komplexen Formeln und Berechnungen der Wissenschaftler eine Beherrschung der Wirklichkeit vor - und das kann sich als verhängnisvoll erweisen, wenn Modelle nicht mehr der Forschung dienen, sondern Managern als Werkzeug überlassen werden.

Jedes Modell ist so stark oder so schwach wie die Daten und Annahmen, die ihm zugrunde liegen. Hans-Werner Sinn weist in seinem Buch darauf hin, dass die risikotheoretischen Modelle, mit denen die Investment-Abteilungen der Banken arbeiten, den Fall der Systemkatastrophe nicht einmal als entfernte Möglichkeit berücksichtigen.

Sie arbeiten nur Daten aus maximal fünf Jahren ein, sodass selbst Konjunkturphasen nicht vollständig erfasst werden - ganz zu schweigen von Erfahrungen wie 1929, als die Weltwirtschaft das letzte Mal zusammenbrach.

Abrechnung mit Modell-Entwicklern

Thomas Lux vom Institut für Weltwirtschaft in Kiel hat vor kurzem zusammen mit sieben Kollegen aus vier Ländern einen Aufsatz veröffentlicht, der eine Abrechnung mit Modell-Entwicklern seines Fachs ist.

Lux und Kollegen werfen ihnen vor, Finanzprodukte nur unter dem Aspekt der Chancen, nicht der Risiken durchgerechnet zu haben: "Aber wie in der Kernphysik können die von Finanzingenieuren bereitgestellten Werkzeuge für sehr verschiedene Zwecke benutzt werden", schreiben die acht Wissenschaftler.

"Ein zur Begrenzung von Risiken entwickeltes Instrument" - zum Beispiel ein Kreditderivat - "kann zur finanziellen Massenvernichtungswaffe werden, wenn es genutzt wird, um Verschuldung zu erhöhen." Banker, die Wertpapiere verkaufen wollen, haben kein Interesse, Katastrophenszenarien in die Wahrscheinlichkeitsrechnungen einzubauen, die sie potentiellen Kunden vorlegen.

Was zählt, ist der Ruhm unter Fachkollegen

Müssten Ökonomen auf Risiken nicht hinweisen? Sind sie nicht verantwortungslos, wenn sie dies nicht wenigstens versuchen? Lux unterstellt den Finanzingenieuren an den Universitäten, dass sie es nicht als ihren Job sehen, die Öffentlichkeit zu warnen - und in der Tat ist ein Kennzeichen jedes Wissenschaftsbetriebs, nicht nur in der Volks- und Betriebswirtschaftslehre: Was zählt, ist der Ruhm unter Fachkollegen; wie ein Forscher in der Öffentlichkeit verstanden wird, ist weniger wichtig.

Das gilt weniger für Sinn oder Zimmermann, Ökonomen also, die in und von beiden Welten leben, wohl aber für den Forscher, der am Universitätsinstitut über seinen Formelsammlungen brütet.

Auch hierzu eine Anekdote von August-Wilhelm Scheer, dem Wirtschaftsinformatiker und Unternehmensgründer. Er sagt, er habe an der Uni die schönsten mathematischen Investitionsmodelle gelehrt - Konstrukte mit künftigen Absatzzahlen und Finanzierungen, in sich sehr schlüssig, nur leider konnten sie eines nicht ersetzen: das Bauchgefühl. Scheer sagt: "Nie im Leben wäre ich auf die Idee gekommen, so ein Modell in meiner Firma anzuwenden."

Was für die jeweilige neueste Prognose, die morgens auf "Bayern5" heruntergebetet wird, nur heißen kann: Die Prognose ist eine Prognose ist eine Prognose. Natürlich haben wir, wo wir schon mal das Unheil nicht haben kommen sehen wollen, nun eine besonders dunkle Sehnsucht nach schlechten Nachrichten. Alles andere müssen wir uns selber beibringen. Zum Beispiel das hier: Fürchtet euch nicht!

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Quelle:
SZ vom 13.06.2009/pak
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