Wirtschaftspolitik in Deutschland:Wir sparen über unsere Verhältnisse

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Kanzlerin Merkel behauptet, Deutschland habe über die Verhältnisse gelebt. Doch das stimmt nicht. Das Letzte, was Deutschland jetzt gebrauchen kann, ist übertriebene Sparsamkeit.

Jürgen Kromphardt

Zur Begründung des von der Bundesregierung beschlossenen "Sparpakets" hat die Bundeskanzlerin argumentiert, Deutschland habe über seine Verhältnisse gelebt. Dies suggeriert, wir müssten alle weniger ausgeben. Ihre Behauptung tritt jedoch nicht zu und drängt die Wirtschaftspolitik in die falsche Richtung. Über seine Verhältnisse hat in Deutschland nur der Staat gelebt, indem er mehr Geld ausgegeben als eingenommen hat - und dies zum Teil aus guten konjunkturpolitischen Gründen.

Kanzlerin Merkel drängt die Wirtschaftspolitik in die falsche Richtung. (Foto: dpa)

Über seinen Verhältnissen hat in diesem Sinne auch das "Ausland" gelebt. Zwar ist in der Finanz- und Wirtschaftskrise die ausländische Nachfrage zurückgegangen. Aber nach wie vor kauft das Ausland mehr Güter von Deutschland, als es uns verkauft, und es verschuldet sich bei uns.

Deutschland als Ganzes dagegen - also der staatliche und der private Sektor, wie die Volkswirte sagen - hat unter seinen Verhältnissen gelebt: Es hat weniger für sich an Gütern verwendet, als es produziert hat. Dies lässt sich an den Überschüssen in der Leistungsbilanz ablesen. Noch mehr hat es unter seinen Möglichkeiten gelebt: Es gibt reichlich unausgelastete Produktionskapazitäten und arbeitsuchende Menschen.

Im Gegensatz zum Staat haben die Privaten (also Haushalte und Unternehmen) wesentlich mehr produziert und verkauft als selbst verbraucht. Die Privaten haben daher weniger ausgegeben als eingenommen und dadurch hohe Ersparnisse gebildet. Die produzierten Güter konnten in diesem Umfang jedoch nur verkauft werden, weil Ausland und Staat sich verschuldet und mehr ausgegeben als eingenommen haben.

Sprunghafte Vergrößerung des Niedriglohnsektors

Hauptverursacher dieser hohen Überschüsse sind die privaten Haushalte mit ihrer hohen Sparquote - und entsprechend niedrigem Konsum. Der wird auch durch die zunehmende Lohnspreizung abgebremst: Besonders die Einkommen der mittleren und unteren Schichten haben in den vergangenen Jahren unter falschen wirtschaftspolitischen Weichenstellungen gelitten; ausgerechnet diejenigen also, bei denen die Konsumquote hoch ist.

So haben die Zwänge, die von der "Agenda 2010" auf die Arbeitsuchenden ausgeübt werden, zu einer sprunghaften Vergrößerung des Niedriglohnsektors geführt. Dort aber werden häufig Löhne unter Tarif bezahlt. Daher fehlt den dort Tätigen das Einkommen, um umfangreichen Konsum zu entfalten. Diese Lohnentwicklung hat auch dämpfend auf die Tariflöhne gewirkt - so dass selbst die tariflich korrekt bezahlten Arbeitnehmer an der Entwicklung der Produktivität kaum und jedenfalls unzureichend beteiligt werden.

Diese Entwicklung wird nicht dadurch ausgeglichen, dass die Einkommen der hochbezahlten Angestellten und Manager infolge der zunehmenden Lohnspreizung ebenso deutlich steigen wie die Einkommen aus Gewinn und Vermögen. Denn aus diesen Einkommen wird viel gespart und nur wenig konsumiert.

Jürgen Kromphardt, 76, emeritierter Professor für Volkswirtschaftslehre an der TU Berlin, ist Vorsitzender der Keynes-Gesellschaft. (Foto: ddp)

Der negative Effekt der Lohnspreizung auf die Gesamtnachfrage wäre zu verkraften, wenn - wie es in Zeiten rascheren Wachstums der Fall war - kreditfinanzierte Investitionen der Unternehmen ein Gegengewicht bildeten. Aber die Unternehmen beschränken insgesamt ihre Investitionen derzeit im Großen und Ganzen auf das Niveau ihrer Gewinne.

Es geht nicht nur ums Sparen

Ein Sparpaket führt nur dann zur Haushaltskonsolidierung, wenn es das Steueraufkommen nicht oder nur wenig beeinträchtigt. Nötig wäre ein Paket, das mehr umfasst als nur das Sparen des Staates. Es müsste erstens die Nachfrage der privaten Haushalte so wenig wie möglich dämpfen. Es sollte nicht die sozial Schwachen mit ihrer hohen Konsumquote treffen. Statt dort staatliche Mittel einzusparen, sollten Steuervergünstigungen für Besserverdienende und Vermögensbesitzer abgebaut werden. Zum Beispiel könnte ein einheitliches Kindergeld gezahlt werden, statt dass gut verdienende Steuerzahler einen Kinderfreibetrag bei der Einkommensteuer berücksichtigen dürfen.

Mit den so erzielten Mehreinnahmen könnte zweitens eine vermehrte Förderung von Innovationen und Investitionen finanziert werden, zum Beispiel in Form von Investitionszuschüssen oder günstigeren Abschreibungsregelungen. Diese Förderung müsste aber durch Förderung des Konsums flankiert werden. Denn die Unternehmen werden höhere Investitionen - die Voraussetzung für höheres Wachstum sind - nur tätigen, wenn sie nicht nur ihrerseits stärkere Anreize erhalten, sondern wenn sich ihre Absatzchancen durch Steigerung der Masseneinkommen verbessern.

Auch ohne mehr Geld auszugeben, könnte der Staat zu den erforderlichen höheren Einkommen der breiten Masse beitragen. Ein Ansatzpunkt dafür: die flächendeckende Einführung von Mindestlöhnen, um das weitere Absinken der niedrigen und mittleren Einkommen zu beenden. Dadurch würden auch die staatlichen Zahlungen für die so genannten "Aufstocker" reduziert, also für Arbeitnehmer, deren Lohn so niedrig ist, dass er auf Hartz-IV-Niveau aufgestockt werden muss. Staatlich vorgeschriebene Mindestlöhne gibt es in fast allen Industriestaaten. Wieso sollten sie ausgerechnet bei uns Arbeitsplätze in nennenswerten Umfang vernichten - entgegen den ausländischen Erfahrungen?

Zusätzlich sollte die Wirtschaftspolitik darauf drängen, dass die Nominallöhne in Deutschland endlich so steigen wie die Summe aus Produktivität und angestrebter Inflationsrate der Europäischen Zentralbank. Dann stiegen die Reallöhne - wie früher viele Jahrzehnte lang - so rasch wie die Produktivität. Die Kaufkraft der Arbeitnehmer würde sich entsprechend erhöhen und die deutsche Wettbewerbsvorteile gegenüber den anderen Staaten im Euro-Raum würden nicht noch weiter vergrößert.

Eine solche Lohnentwicklung herbeizuführen ist zwar vor allem Aufgabe der Tarifparteien. Aber die Regierung könnte aufhören, Lohnzurückhaltung zu propagieren, und sie müsste den Einfluss der Tarifverträge stärken, nicht nur durch Mindestlöhne, sondern auch durch Vorschriften, die den Missbrauch der Leiharbeit und andere Umgehungsmöglichkeiten verhindern. Durch das so erzielte Wachstum entstünden über höhere Einkommen höhere Steuereinnahmen. Die Folge: Die öffentlichen Haushalte würden auch über die Einnahmen konsolidiert.

© SZ vom 13.07.2010 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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