Wirtschaftspolitik:"Deutschland setzt falsche Prioritäten"

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Die Wirtschaftsweise Isabel Schnabel ist überzeugt: Die Digitalisierung wird nichts daran ändern, dass Deutschland ein reiches Land ist. Allerdings muss sich die Gesellschaft auf das Neue viel besser vorbereiten.

Interview von Michael Bauchmüller und Stefan Braun

Kriege, Klima, Flüchtlinge, kaputte Schulen - die nächste Bundesregierung wird vor großen Herausforderungen und Problemen stehen. Die SZ befragt Experten, was diese von einer Regierung in dieser Welt voller Großaufgaben erwarten. Den Anfang machten der Politikwissenschaftler Herfried Münkler, der Klima-Forscher Ottmar Edenhofer und die Sozialexpertin Jutta Allmendinger. Weitere Gesprächspartner sind Dirk Messner, Experte für Entwicklungspolitik, und die Integrationsforscherin Naika Foroutan.

SZ: Frau Schnabel, würden Sie Deutschland als reiches Land bezeichnen?

Isabel Schnabel: Ja sicher, selbstverständlich.

Wie kann es dann in diesem Land Schulen geben, in denen der Putz von den Wänden fällt? Und manche Menschen kaum ihren Unterhalt bestreiten können?

Das erste hat mit einer falschen Prioritätensetzung zu tun. Das zweite liegt daran, dass es auch in einem reichen Land nicht jedem einzelnen gut geht. Aber wir haben ein umfassendes Sozialsystem, das dafür sorgt, dass die Einzelnen von den größten Härten verschont werden. Auch in diesem Sinne sind wir reich.

Dennoch klagen viele über eine Schere zwischen Arm und Reich, die sich immer weiter öffne. Teilen Sie diese Analyse?

Dieser Eindruck ist weit verbreitet. Wenn man sich die Daten genau anschaut, stellt man jedoch fest, dass das gar nicht stimmt.

Woran machen Sie das fest?

Seit 2005 ist die Ungleichheit der Einkommen weitgehend stabil - vor allem dank des boomenden Arbeitsmarkts. Und das trotz Finanzkrise und Zuwanderung. Das ist eine beachtliche Leistung. Das Frappierende ist, dass trotzdem der Eindruck vorherrscht, die Schere sei deutlich auseinander gegangen.

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Wie erklären Sie sich das?

Ich glaube, daran sind die Medien nicht ganz unschuldig, weil sie so etwas gerne berichten, selbst wenn es den Fakten nicht immer entspricht. Allerdings muss ich eines hinzufügen: dass die Ungleichheit konstant geblieben ist, heißt nicht, dass man der Meinung sein muss, es sei alles in Ordnung. Man kann das durchaus anders sehen. Das ist eine Frage, die am Ende die Politik entscheiden muss.

Und wie empfinden Sie das?

Meine Gefühle spielen hier keine Rolle. Für mich ist wichtig, dass der Bevölkerung keine falschen "Fakten" eingeredet werden, beispielsweise dass alles immer schlechter werde. Wir haben eine Beschäftigung, die so hoch ist wie noch nie; das ist das Beste, was einer Volkswirtschaft passieren kann und ist ein ganz großer Erfolg der deutschen Wirtschaftspolitik - nicht der der letzten zehn Jahre wohlgemerkt. Es ist ein Erfolg der Regierung unter Gerhard Schröder, von dem seine Nachfolger bis heute profitieren.

Was lesen Sie aus den Protesten und Wahlerfolgen der AfD? Sind deren Attacken Zeichen des Wohlstands?

Die meisten Deutschen sind zufrieden mit ihrer derzeitigen Lage. Was aber eine große Rolle spielen dürfte, ist die Befürchtung, dass es ihnen in Zukunft schlechter gehen könnte. Nehmen Sie das Thema Digitalisierung. Da wird häufig die These verbreitet, in zehn Jahren werde es kaum noch Arbeitsplätze geben, weil die Digitalisierung einen Großteil der Arbeitsplätze vernichten würde. Die Menschen haben Angst.

Wenn man das ernst nimmt, auch diese Angst - was müsste die nächste Bundesregierung also tun?

Die Digitalisierung ist eine Form des Strukturwandels. Strukturwandel ist ein wesentlicher Teil einer dynamischen Volkswirtschaft. Wir haben immer Strukturwandel erlebt. Es gab stets neue technologische Entwicklungen, die Globalisierung und nun eben die Digitalisierung. Das bedeutet, dass bestimmte Berufe oder Branchen profitieren. Es gibt gleichzeitig andere, die darunter leiden; und es gibt Unternehmen und Berufe, die verschwinden. Das ist für die Betroffenen ein schmerzhafter Prozess.

Aber wenn man ein flexibles System hat, werden diese Personen meist schnell woanders einen neuen Arbeitsplatz finden. Das setzt natürlich voraus, dass diese Personen auch eine entsprechende Qualifikation haben. Ein zentraler Punkt ist daher, dass wir die Leute befähigen, im Fall der Fälle diesen neuen Arbeitsplatz auch ausfüllen zu können.

Bei der Dimension der Aufgabe, bei der Größe des Strukturwandels - muss die nächste Regierung ein Volksbildungsprogramm Digitalisierung starten? Zum Beispiel, indem sie die Bundesagentur für Arbeit so modernisiert und umbaut, dass sie sich nicht erst dann um die Menschen kümmert, wenn sie ihren Arbeitsplatz schon verloren haben?

Die Bundesagentur sollte dabei durchaus eine Rolle spielen. Zusätzlich sollten aber auch die Verbände aktiv werden, die Arbeitgeber, die Gewerkschaften. Wichtig ist, dass Fortbildung und lebenslanges Lernen selbstverständlich werden. Früher haben das vor allem die Unternehmen übernommen.

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Warum ist das nicht mehr so?

Früher war es üblich, dass man von einem Betrieb ausgebildet wurde, später übernommen wurde und dann dort bis zur Rente geblieben ist. Das ist heute die Ausnahme. Und deshalb fragen sich immer mehr Unternehmen, ob sich die Fortbildung noch lohnt, wenn sie gar nicht sicher sein können, wie lange jemand bei ihnen bleiben wird.

Ist es überhaupt realistisch, aus gut ausgebildeten Facharbeitern jetzt zuhauf IT-Programmierer zu machen?

Nein, aber das ist auch gar nicht nötig. So viele Programmierer braucht man gar nicht. Man braucht viel eher Leute, die in der Lage sind, sich schnell in einem neuen Anforderungsfeld zurecht zu finden und mit den dort auftretenden Problemen umzugehen. Statt Programmierkenntnissen braucht man vor allem Flexibilität und mehr Basiskompetenzen als Spezialwissen.

Das mag schön klingen. Aber hören wir nicht seit zwanzig Jahren oder länger: Bildung, Bildung, Bildung? Schaut man aber genau hin, dann sieht es da finster aus. Warum?

Es gibt seit Jahren eine falsche Prioritätensetzung. Vor allem auf Länderebene. An der Stelle muss sich die Politik an die eigene Nase fassen, warum sie ausgerechnet den Bildungsbereich vernachlässigt hat. In diesen Bereich sollten mehr Gelder gelenkt werden.

Seit Jahrzehnten gibt es ausgerechnet bei einem zentralen Thema wie der Bildung eine Art Möchtegernwettbewerb zwischen den Bundesländern. Muss man das nicht endlich abschaffen?

Nein, keinesfalls. Wenn man das täte, könnte es nämlich passieren, dass das Bildungssystem in allen Ländern auf das niedrigere Niveau absinkt. Das wäre weit schlechter als das jetzige System.

Sie wollen die Schulen neu aufstellen, aber das Kooperationsverbot unangetastet lassen? Das verhindert derzeit, dass der Bund sich in Bildungspolitik und Finanzierung der Schulen einmischt.

Eine gewisse Lockerung könnte angebracht sein. Aber ich halte Bildungswettbewerb für sinnvoll.

Haben Sie dafür ein Beispiel?

Nehmen Sie die Familien, die sich überlegen, wo sie hinziehen, damit ihr Kind die aus ihrer Sicht beste Bildung bekommt.

Moment. Ist das nicht genau umgekehrt? Dass Menschen wegen ihres Jobs von einem Bundesland ins andere umziehen müssen - und plötzlich in den Schulen der Kinder ganz andere Verhältnisse herrschen?

Sie sehen das zu pessimistisch. Die Vorstellung, man sei dem Arbeitsmarkt wehrlos ausgeliefert, ist doch falsch. Tatsächlich kehren sich die Machtverhältnisse im Augenblick eher um. Wir laufen auf einen Fachkräftemangel zu; da werden sich die Unternehmen ganz schön anstrengen müssen, die guten Leute überhaupt zu bekommen. Dabei spielen Standortfaktoren - wie die Qualität des Bildungssystems - eine wichtige Rolle. Das betrifft natürlich vor allem die gut Ausgebildeten.

Womit wir wieder bei Ungleichheit und wachsenden Unterschieden sind.

An der Stelle haben Sie recht. Es bestehen große Unterschiede zwischen denen, die eine gute Ausbildung haben, und denen, bei denen dies nicht der Fall ist. Hier ist der Staat gefordert, damit jeder gemäß seinen Fähigkeiten die Möglichkeit hat, eine gute Ausbildung zu erhalten. Dies ist zentral für die Chancengerechtigkeit. Das fängt bei der frühkindlichen Bildung in den Kindergärten an. Deshalb hat sich der Sachverständigenrat auch für ein kostenfreies verpflichtendes Vorschuljahr ausgesprochen. Wir müssen früh beginnen, wenigstens einen Teil der Unterschiede auszugleichen. Wir müssen natürlich auch Spitzenleistungen zulassen. Aber es darf nicht passieren, dass jemand abgehängt wird, weil er aus einem Elternhaus kommt, das auf Schule und Bildung nicht viel Wert legt.

Sollte der Staat für eine solche Großanstrengung "Schule und Bildung" zur Not auch neue Schulden machen oder die Steuern erhöhen?

Das ist gar nicht nötig. Man kann das im Rahmen des jetzigen Budgets schaffen, wenn man an anderer Stelle spart.

Nämlich wo?

Nehmen sie die Möglichkeiten im Bereich der öffentlichen Verwaltung durch die Digitalisierung. Da hinkt Deutschland weit hinterher, obwohl es enorme Effizienzpotenziale gibt. Dadurch würden vermutlich Jobs verloren gehen. Aber an dieser Art von Effizienzsteigerung werden wir gar nicht vorbei kommen. Das gleiche gilt für unser Gesundheitswesen. Es ist so ineffizient, dass wir dringend etwas tun müssen.

Woran denken Sie da?

Das fängt bei ganz einfachen Dingen an. Zum Beispiel, dass eigentlich jeder Arzt schnell wissen sollte, was der Patient für Befunde hat, welche Medikamente er nimmt, welche Operationen er hatte.

Ist Ihnen der Datenschutz egal?

Natürlich nicht, hier gibt es immer Abwägungen. Aber das Potenzial sollte man nutzen, im Sinne des Patienten. Vielleicht mit der Möglichkeit, dass der Patient stets aktiv einwilligen muss, wenn etwas gespeichert wird. Aber das geht noch viel weiter. Man kann sich ja längst vorstellen, dass Ärzte durch Fotografien oder Livestreams übers Handy erste Ferndiagnosen erstellen. Das würde beispielsweise dort helfen, wo es auf dem Land kaum noch Landärzte gibt. Es wäre also eine große Errungenschaft.

Ist das nicht eine Träumerei?

Nein. Im Gegenteil. Man muss die Chancen erkennen. So etwas ist doch eine gute Alternative, wenn man sich wochenlanges Warten auf einen Termin und stundenlanges Warten in einer Praxis ersparen könnte. Möglicherweise sitzt der Arzt gar nicht in Deutschland.

Das klingt ein bisschen gruselig.

Finde ich nicht. Warum? Ich glaube, der Wohlfahrtsgewinn daraus ist enorm. Sie kennen das bestimmt auch: Man geht nicht zum Arzt, weil der ganze Prozess zu langwierig und mühsam ist. Und deshalb macht man oft gar nichts, was aus gesundheitlichen Gründen falsch ist. Ist das besser? Ich finde nicht.

Und was machen Sie mit den Diagnosen? Per Mail geben? Übers Internet?

Diagnosen, gerade auch unschöne Diagnosen, kann man nicht übers Internet machen, hier ist der persönliche Kontakt mit dem Arzt unverzichtbar. Aber das ändert nichts am Sinn und Nutzen der Technik.

Sind wir längst in einer Welt, in der man sich dagegen nicht mehr wehren kann?

Sie stellen die Menschen als Opfer der Technik dar. Nehmen Sie das Bankgeschäft. Früher sind die Menschen selbst zum Geldabheben in eine Bank gegangen und haben dort mit irgendjemandem geredet. Das ist natürlich sozial schön, man tauscht sich aus. Keiner von uns macht das heute mehr. Warum nicht? Weil wir dadurch Zeit sparen. Und die können wir dann nutzen, um mit Menschen zu sprechen, die uns noch wichtiger sind. Mit Familie, mit Freunden. Vielleicht werden bestimmte Dinge weniger persönlich. Aber das sind ja nicht die Dinge, auf die man wirklich wert legt.

Wie verhindert man, dass diejenigen sich nicht abwenden, die nicht so schnell und selbstverständlich mit der neuen Welt umgehen? Wie verhindert man die digitale Spaltung der Gesellschaft?

Ich glaube, das ist zu viel Schwarzmalerei. Das ist eine Generationenfrage. Wer in der jüngeren Generation hat heute kein Smartphone? Es ist eine Generationenfrage, und damit ein Übergangsproblem.

Sind denn alle einfach befähigt, damit umzugehen?

Man muss die Menschen zu mündigen Bürgern erziehen. Die Welt ist in vielen Bereichen kompliziert geworden. Aber ich glaube nicht, dass der Staat das allein durch Regulierung und Verbote in den Griff bekommen wird. Es würde ja auch dem Gedanken des souveränen Bürgers widersprechen. Die Leute wachsen daran. Und über Risiken muss man aufklären.

Ist unser Bildungssystem darauf vorbereitet?

Eher nein. Die Ausstattung ist häufig nicht adäquat. Und das, obwohl man dafür gar nicht so viel mehr Geld bräuchte. Ein wichtiger Punkt ist die Ausbildung der Lehrer, die nur Wissen weitergeben können, das sie selbst erlernt haben.

Der Sachverständigenrat, dem Sie angehören, fordert eine "zukunftsorientierte Wirtschaftspolitik". Wie soll die aussehen?

Wir haben derzeit eine außergewöhnlich gute Wirtschaftslage. Da sagen einige: Uns geht es gut, also müssen wir nichts ändern. Das sieht der Sachverständigenrat ganz anders. Die gute Lage hat nicht zuletzt damit zu tun, dass in Deutschland vor mehr als zehn Jahren wichtige Reformen beschlossen wurden. Und sie hat mit vorübergehenden günstigen Entwicklungen zu tun, insbesondere der äußerst lockeren Geldpolitik der Europäischen Zentralbank. Davon sollte man sich nicht täuschen lassen; der Boom wird nicht dauerhaft anhalten.

Warum nicht?

Das derzeitige Wachstum von über zwei Prozent ist höher als das, was Deutschland dauerhaft erzielen kann. Es geht über die Kapazitätsgrenzen hinaus. Der Boom ist also nur temporär. Deshalb wäre gerade jetzt die Zeit, sich um die Herausforderungen der Zukunft zu kümmern.

Was heißt das konkret?

Eine verantwortlich handelnde Regierung müsste sich um die Herausforderungen aus der Digitalisierung, der Alterung der Gesellschaft und dem drohenden Fachkräftemangel kümmern. Und natürlich um Europa: Wie halten wir es zusammen? Wie verhindern wir die nächste Schuldenkrise?

Welches Thema ist Ihnen das wichtigste?

Alle sind wichtig. Kurzfristig halte ich es für besonders dringend, dass wir die Reformen in Europa anpacken.

Warum?

Ein großes Problem ist, dass infolge der Finanzkrise die Staatsverschuldung stark angestiegen ist. Wir haben uns in Europa auf eine Obergrenze von 60 Prozent des Bruttoinlandsprodukts geeinigt. Frankreich liegt derzeit aber bei fast 100 Prozent, Italien sogar bei über 130 Prozent. Das birgt Risiken für die Tragfähigkeit der Schulden. Es gibt im Augenblick ein Zeitfenster, in dem wir Europa voranbringen können, zusammen mit Frankreich. Diese Chance müssen wir ergreifen.

Das klingt nach deutscher Strenge statt nach mehr Solidarität Deutschlands.

Ohne Kompromisse wird es nicht funktionieren. Deutschland will mehr Marktdisziplin; andere fordern mehr Risikoteilung. Wenn wir sagen: mehr Risikoteilung lassen wir nicht zu, dann bekommen wir auch die Marktdisziplin nicht. Wir müssen also beides kombinieren.

Wie könnte das gehen?

Indem wir Mechanismen zur Risikoteilung - etwa eine gemeinsame Einlagensicherung oder eine europäische Arbeitslosenversicherung - so ausgestalten, dass sie die richtigen Anreize setzen. Die Risikoteilung darf nicht dazu führen, dass Staaten ihre Bankensysteme oder Arbeitsmärkte nicht reformieren. Sonst wäre das sehr schädlich.

SPD-Chef Martin Schulz wirbt für Vereinigte Staaten von Europa. Können Sie sich das vorstellen?

Ich halte das derzeit nicht für eine realistische Option. Wir müssen uns doch fragen, warum es das Misstrauensvotum der Briten gegen Europa gegeben hat. Jetzt mit Vollgas in Richtung Vereinigte Staaten zu steuern, wäre genau das Falsche. Wir sollten uns eher darauf besinnen, was originär europäische Aufgaben sind.

Welche sind das für Sie?

Zum Beispiel Klimaschutz, Flüchtlingsmigration, Terrorismusbekämpfung, innere Sicherheit. Das Verblüffende ist: Genau in diesen Bereichen hat Europa häufig versagt. Dabei dürfte es dort durchaus Bereitschaft geben, Kompetenzen und Geld auf die EU-Ebene zu verschieben.

Heißt das im Umkehrschluss, dass Sie finanzielle und soziale Solidarität ablehnen?

Ganz und gar nicht. Aber es muss sichergestellt werden, dass die Staaten im Gegenzug die nötigen Reformen durchführen. Wenn einige Länder das Gefühl haben, sie sind die Zahlmeister Europas, dann kann das nicht funktionieren. Übrigens hat es in der Krise eine große Solidarität gegeben.

Kann dieses Europa in einer Welt der großen Machtverschiebungen bestehen? Gegen ein bald allmächtiges China?

Ich hoffe es. Es ist jedenfalls klar, dass Europa nur gemeinsam eine entscheidende Rolle in der Welt spielen kann.

China tritt auf dem Weltmarkt ziemlich aggressiv auf. Mit gezielten Investitionen, mit Handelsverträgen, mit politischer Einflussnahme. Sind wir Europäer dem überhaupt gewachsen?

Wir müssen aufpassen, nicht übervorteilt zu werden, gerade wenn China versucht, sich entscheidender Technologien zu bemächtigen. Die Chinesen treten sehr aggressiv auf und verschaffen sich Wettbewerbsvorteile, wenn sie beispielsweise ein deutsches Unternehmen kaufen und ihm dann den Marktzugang nach China ermöglichen.

Für eine liberale Ökonomin muss es hart sein zu erkennen, dass ein Land wie China auch ohne freie Marktwirtschaft sehr erfolgreich sein kann.

China ist keine reine Planwirtschaft. In manchen Bereichen ist dieses Land marktwirtschaftlicher als wir. Und es kämpft mit erheblichen Problemen. Gerade im Finanzsektor haben sich Risiken aufgebaut, weil sich der Unternehmenssektor sehr stark verschuldet hat. Dabei stellt sich die Frage, ob der chinesische Staat stark genug ist, im Krisenfall die Folgen platzender Finanzblasen abzufedern. Von den Problemen mit der Umwelt, der wachsenden Ungleichheit und der zunehmenden Divergenz zwischen Land und Stadt ganz zu schweigen.

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Läuft Europa im Duell mit China nicht die Zeit davon?

Europa muss sich anstrengen, um im Wettbewerb bestehen zu können. Gerade angesichts der Einschränkungen bürgerlicher Freiheiten ist aber nicht ausgemacht, dass China dauerhaft erfolgreich sein wird. Außerdem ist Europas vermeintliche Schwäche auch eine Stärke.

Was meinen Sie?

Die Heterogenität kann Europa robuster gegenüber Schocks machen. Wenn in China eine große Krise ausbräche, träfe es schnell ein riesiges Reich. Bei uns ist das nicht automatisch so.

Und wenn China eine Quote für Elektroautos beschließt, dann betrifft es einen Milliardenmarkt. Gibt nicht China der deutschen Industrie inzwischen den Kurs vor?

Abwarten. Chinas Größe und der große Heimatmarkt sind ein Vorteil. Die Transformation zur Industriegesellschaft ist allerdings längst noch nicht abgeschlossen. China ist einflussreich, aber nicht übermächtig.

Wenn Sie sich das alles ansehen: Bedauern Sie es, dass Jamaika nicht kommt?

Mit Blick auf Deutschlands Zukunftsfähigkeit hätte ich Jamaika in der Tat einiges zugetraut. Zum Beispiel eine mutigere Klimapolitik und einen stärkeren Einsatz für die Bildung. Die große Koalition hat sich in der Vergangenheit nicht gerade durch eine zukunftsorientierte Politik ausgezeichnet. Sie hat zu viel Wert auf die Verteilungspolitik gelegt.

Die SPD-Spitze wird ihrer Partei eine neue große Koalition nur verkaufen können, wenn sie besonders viele Wohltaten mitbringt. Sorgt Sie das?

Absolut. Das ist meine große Sorge. Dass man genau die Dinge, die unter der SPD vor zehn, zwölf Jahren erfreulicherweise umgesetzt wurden, wieder zurückdreht. Dabei war das die beste Sozialpolitik, die wir machen konnten. Menschen in Arbeit bringen - das ist doch das Wichtigste.

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