Als sie ein Kind war, so erzählte es Esther Duflo vor wenigen Jahren, habe sie ihren Wohlstand irgendwann als Last empfunden. Die Mutter, eine Ärztin, reiste und erzählte viel von Entwicklungsprojekten, das Kind las und machte sich ein Bild von einer Welt, in der noch immer viele Menschen in absoluter Armut leben. Das frühe Wissen darum, wie gut es ihr geht, habe sie zu ihrer Forschung gebracht, erzählte Duflo vor vier Jahren in einem Interview mit der SZ. "Ich habe versucht, meine Schuldgefühle zu kompensieren, indem ich die Armut erforsche."
Damit ist sie weit gekommen. Am Montagmittag zeichnete die Schwedische Akademie der Wissenschaften die Ökonomin mit dem Wirtschaftsnobelpreis aus. Sie teilt sich den Preis mit ihrem Mann Abhijit Banerjee, mit dem sie das Poverty Action Lab, ein internationales Zentrum für Armuts- und Entwicklungsforschung, an der Bostoner Universität MIT gegründet hat und leitet. Mit ausgezeichnet wurde außerdem der Harvard-Ökonom Michael Kremer, der in den Neunzigerjahren erstmals den Forschungsansatz wählte, den Duflo und Banerjee perfektioniert haben, oft in Zusammenarbeit mit Kremer. Die drei Forscher erhalten den Preis für ihren "experimentellen Ansatz zur Bekämpfung der globalen Armut", wie es in der offiziellen Mitteilung heißt. Mit ihrer Forschung hätten die Preisträger die Möglichkeiten der Armutsbekämpfung wesentlich verbessert.
Ihr Ansatz hat innerhalb von gut zwei Jahrzehnten die Entwicklungsökonomik komplett verändert und von einem relativen Nischenfach zu einem viel beachteten Forschungsfeld gemacht. Dank Kremer, Banerjee und Duflo sitzen Entwicklungsökonomen heute nicht mehr nur an Schreibtischen, füttern Modelle mit Daten und versuchen auf abstraktem Wege zu beantworten, was den wirtschaftlichen Fortschritt in Entwicklungsländern hemmt. Sie steigen in den Flieger und unternehmen Feldexperimente an Ort und Stelle, um so präzise wie möglich herauszufinden, was wirklich gegen Armut hilft.
Um Armut zu bekämpfen, muss man zuerst die Armen kennen
Als sie am Montag bei der Bekanntgabe der Preise in Stockholm telefonisch zugeschaltet war, sagte Duflo auf die Frage nach der Essenz ihrer Arbeit: "Es geht darum sicherzustellen, dass der Kampf gegen Armut auf wissenschaftlichen Erkenntnissen basiert." Ohne zu wissen, wie die Ärmsten der Armen denken und leben, kann man die Armut auch nicht effektiv bekämpfen - das ist das Leitmotiv der Preisträger.
Verbessert ein einfacherer Zugang zu Medikamenten den schulischen Erfolg von Kindern? Sollte man Moskitonetze gegen Malaria verschenken, zum vollen Preis verkaufen oder subventionieren? Wie wichtig sind Mikrokredite für Kleinbauern, und wie müssten sie organisiert sein, um den größtmöglichen Effekt zu haben?
Die Fragen, denen sich Duflo und ihre Kollegen widmen, sind so vielschichtig wie die Gesellschaftsstrukturen, denen sie begegnen. Um sie zu beantworten, teilen sie etwa die Bevölkerung einiger Dörfer zufällig in mehrere Gruppen ein, von denen eine Kontrollgruppe bleibt - so wie es in der medizinischen Forschung üblich ist. Am Ende eines solch aufwendigen Vorhabens steht beispielsweise ein Datensatz, der zeigt, auf welchem Wege man die Impfquote von Kleinkindern am ehesten verbessern kann, wie man die Fehlzeiten von Lehrern in Schulen auf dem Land minimiert, oder wofür extrem arme Menschen ihr Geld ausgeben, wenn es um Freizeitgestaltung geht.
Mit ihren Forschungspapieren über diese Experimente hat es Duflo unter die am meisten zitierten Ökonomen der Welt geschafft. Sie ist nach der Politologin Elinor Ostrom die zweite Frau, die den Wirtschaftsnobelpreis erhält. Mit 46 Jahren ist sie zudem die jüngste jemals mit dem Preis ausgezeichnete Forscherin. Im Vergleich zu vielen früheren Preisträgern sind Banerjee, 58, und Kremer, 54, ebenfalls jung. Gleiches gilt für ihren Forschungszweig.
So populär der Forschungsansatz, so umstritten ist er auch
So sehr ihr Ansatz die ökonomische Wissenschaft verändert hat: Er ist auch umstritten. Erst 2015 hatte in Angus Deaton nicht nur ein anderer brillanter Entwicklungsökonom den Wirtschaftsnobelpreis erhalten, sondern auch ein prominenter Kritiker der Feldexperimente. Er argumentiert, Banerjee und Duflo würden sich zu sehr auf die Ergebnisse verlassen und allgemeine kausale Zusammenhänge unterstellen, wo möglicherweise keine sind. Die sogenannten randomisierten Kontrollstudien könnten helfen, Programme in einem bestimmten lokalen Kontext zu gestalten, seien aber meist nicht zu verallgemeinern. Auch der Ausschnitt aus der Bevölkerung sei jeweils gerade nicht zufällig gewählt.
Banerjee und Duflo dagegen argumentieren, die Zufallsstudien zwängen Forscher mehr als alle anderen Methoden, über Kausalität nachzudenken. Sie ließen Wissenschaftler alle möglichen Daten untersuchen, die sie sonst unter Verweis auf eine schlechte Datenlage ignorieren würden. Außerdem trügen die Feldstudien entscheidend dazu bei, das Leben der Ärmsten überhaupt erst zu verstehen, und das sei schließlich die wichtigste Grundlage.
Im Unterschied zu den anderen Nobelpreisen geht die weltweit höchste Auszeichnung für Wirtschaftswissenschaftler nicht auf den Namensgeber Alfred Nobel zurück. Daher heißt der Preis offiziell Alfred-Nobel-Gedächtnispreis für Wirtschaftswissenschaften. Die schwedische Reichsbank stiftete ihn im Jahr 1968 anlässlich ihres 300-jährigen Bestehens, ein Jahr später wurde er erstmals verliehen. Alfred Nobel hatte die Ökonomik seinerzeit abgelehnt, konnte zu seinem Tod im Jahr 1896 aber auch nicht wissen, welche Entwicklung das Fach noch nehmen sollte.