Wirtschaftskrise:Venezuela - ein Land vor dem Zusammenbruch

  • Venezuela geht es schlecht: Dem Ölstaat fehlt sogar das Geld, um Milch und Medikamente zu importieren.
  • Millionen Menschen protestieren gegen Präsident Nicolás Maduro.
  • Um die Schulden Venezuelas im Ausland bezahlen zu können, lässt der Präsident massiv Geld drucken - die Inflationsrate liegt Schätzungen zufolge bei 740 Prozent.

Von Boris Herrmann, Caracas

Venezuela steht schon seit Jahren kurz vor dem Ruin. Wer aber dieser Tage nach Caracas kommt, der staunt aus zweierlei Gründen. Erstens, weil sich die dramatische Versorgungskrise des vergangenen Jahres noch deutlich verschärft hat. Zweitens, weil Venezuela immer noch existiert. Trotz allem.

Noch vor einigen Monaten fuhr man in die ärmeren Gegenden der Hauptstadt, um sich von der realen Not zu überzeugen, um die Bäckereien ohne Brot zu sehen, die Apotheken ohne Medikamente, die Viertel ohne Recht und Gesetz. Inzwischen kann man dafür in einem Stadtteil wie Altamira bleiben, wo Familien wohnen, die sich eben noch zur gehobenen Mittelklasse zählten. Frühmorgens, bevor das Müllauto kommt, wird dort in den Tonnen und Säcken auf der Straße gewühlt. Eine Anwohnerin, die gerade noch genug Geld hat, um sich mit Grundnahrungsmitteln vom Schwarzmarkt zu versorgen, und gleichzeitig ein Herz für jene hat, die das nicht mehr können, berichtet von einer neuen Form der Mülltrennung. Sie sortiert ihre Essensreste, die Knochen eines Hühnchens, die Kartoffelschalen, und entsorgt sie in separaten Tüten, die sie beschriftet. Damit die Hungrigen schneller finden, was sie suchen.

Wenn die Geschichte anders verlaufen wäre, müsste Caracas heute wie Dubai aussehen. Mit Wolkenkratzern, Shopping-Malls und Springbrunnen der Superlative. Rekordverdächtig sind hier aber allenfalls die Supermarktschlangen, die Inflation und die Mordrate. Venezuela im Jahr 2017, das ist auch ein Lehrstück zum Thema: Wie ruiniert man ein Ölreich.

Mindestens eine Billion Dollar aus dem Erdölexport

Laut dem venezolanischen Wirtschaftsgelehrten José Guerra sind seit 1999, seit Hugo Chávez an die Macht kam, mindestens eine Billion Dollar aus dem Erdölexport ins Land geflossen. Wo das ganze Geld geblieben ist? Guerra vermutet: "Misswirtschaft und Kapitalflucht, vor allem. Der Rest wurde veruntreut."

Guerra, 59, promovierte an der Universität von Illinois, arbeitete bei der venezolanischen Zentralbank und übernahm später einen Lehrstuhl an der Uni in Caracas. Seit 2015 sitzt er auch als Abgeordneter der Opposition im machtlosen venezolanischen Parlament. Er ist politisch nicht unabhängig, aber als Ökonom hat er es sich vor allem zur Aufgabe gemacht, das Land mit jenen Statistiken zu versorgen, welche die Behörden nicht mehr herausgeben.

Beispielsweise die des Bruttoinlandsproduktes. Guerra schätzt, dass es im Jahr 2016 um 18 Prozent geschrumpft ist. Die Jahresinflation beziffert er zur Zeit auf 740 Prozent, die Auslandsschulden auf 140 Milliarden US-Dollar. Weil die heimischen Raffinerien marode sind, gibt das ölreichste Land der Welt, laut Guerra, jährlich 700 Millionen Dollar aus, um Benzin aus den USA zu importieren. Das wird an die heimischen Autofahrer praktisch verschenkt, also an jenen reicheren Teil der Bevölkerung, der sich noch ein Auto leisten kann. Eine Flasche Trinkwasser kostet heute etwa so viel wie 1500 Liter Normalbenzin.

Aus Sicht von Präsident Nicolás Maduro ist Guerra ein Vaterlandsverräter, weil er solche Zahlen veröffentlicht. Der Staatschef drohte damit, ihn verhaften zu lassen. Angesichts der Protestwelle gegen das zunehmend diktatorische Regime erhob Maduro sogar den Vorwurf, Guerra habe Killer engagiert, um Demonstranten aus den eigenen Reihen abknallen zu lassen, nur um mit einem "Klima des Terrorismus" die Regierung zu destabilisieren. Tatsächlich sind wohl regierungstreue Milizen für einen großen Teil der mindestens 26 Todesopfer seit Anfang April verantwortlich.

Der Präsident schiebt die Schuld auf die USA

Die zerstrittene Opposition ist bei einem Großteil der Venezolaner kaum beliebter als die Regierung. Trotzdem folgen derzeit Millionen ihrem Aufruf zu Straßenprotesten. Einiges deutet darauf hin, dass die Menschen das System Maduro endgültig leid sind. Der schiebt alles auf den Ölpreisverfall und einen imperialistischen Wirtschaftskrieg, der angeblich in Washington orchestriert wird. Die USA sind aber einer der größten Abnehmer von venezolanischem Öl und damit einer der wichtigsten Handelspartner. 96 Prozent aller Exporte Venezuelas stammen heute vom 1976 verstaatlichten Ölkonzern PDVSA. Der Antiamerikanismus ist außenpolitisch sinnlos, wird innenpolitisch aber zur Konstruktion eines Feindbildes gebraucht. Doch selbst das bröckelt. Obwohl fast alle wichtigen Medienhäuser gleichgeschaltet sind, durchschauen mehr und mehr Venezolaner, dass der Ölpreis allenfalls einen Teil ihrer Notlage erklärt.

Schon unter Chávez wurde PDVSA systematisch heruntergewirtschaftet, Maduro besorgt gerade den Rest. Der Economist sprach Ende der 1990er-Jahre noch vom weltweit effizientesten Ölkonzern. Das Magazin Forbes hat ihn gerade zum schlechtestgeführten Ölkonzern der Welt erklärt. Viele Bohrtürme sind so kaputt wie das ganze Land, PDVSA fördert jeden Monat weniger und ist inzwischen hochgradig verschuldet.

Chávez hat sich nie um die Zukunft gekümmert

Der 2013 verstorbene Chávez hat sich nie um Investitionen in die Zukunft seines Landes gekümmert. Die Preisbindung für fast alle Konsumgüter sowie die Fixierung des Wechselkurses zum Dollar leiteten den Niedergang der Wirtschaft ein. Für Unternehmer lohnt es sich in diesem Land schlicht nicht, etwas herzustellen und zu verkaufen. Die damals noch sprudelnden Ölgewinne gab Chávez für populäre Sozialprogramme aus. In diesem Zusammenhang erfand er 2006 den Begriff vom "Sozialismus des 21. Jahrhunderts", wohlgemerkt sieben Jahre nach seinem Amtsantritt. Bei Chávez war der Sozialismus ein Mittel zum Zweck, bei Maduro ist er nur noch eine Worthülse. Was heute in Venezuela passiert, ist Raubtierkapitalismus in seiner bizarrsten Form.

Auf die naheliegende Frage, wie sich dieser Präsident noch im Amt halten kann, gibt es eine Reihe von komplizierten Antworten. Eine der schlüssigsten stammt von dem Soziologen Nicmer Evans, 41, und führt zur Wall Street in New York. Evans steht nicht im Verdacht, ein konservativer Agitator zu sein. Zeitlebens war er ein linker Aktivist, unter Chávez brachte er es bis zum stellvertretenden Bildungsminister. Was Maduro treibt, hält Evans für Verrat an der chavistischen Revolution. Unter diesem Präsidenten, sagt Evans in seinem Büro in Caracas, sei bislang nur auf eines Verlass: dass er unter allen Umständen die Auslandsschulden bedient und dafür jedes Opfer in Kauf nimmt.

In der Staatskasse fehlt das Geld, um genügend Reis, Mehl, Milch, Medikamente und Klopapier zu importieren, all die grundlegenden Dinge, die in Venezuela Luxusgüter sind, weil sie nicht mehr selbst produziert werden. Anfang April aber hat Caracas wieder einmal fristgerecht 2,2 Milliarden Dollar an Gläubiger von Staatsanleihen und PDVSA-Aktien überwiesen. Schon grotesk: Der angebliche Sozialist Maduro hat es sich mit nahezu der ganzen Welt verscherzt, bloß nicht mit der Wall Street. Die Washington Post wunderte sich neulich über seine "selbstmörderische Zahlungsmoral".

Laut Evans erklärt aber genau diese Zahlungsmoral, weshalb Maduros bislang politisch überlebt hat. Zu den venezolanischen Anleihegläubigern gehören nach Darstellung des Soziologen auch hochrangige Mitglieder des eigenen Machtapparats, dazu viele Leute aus der grundsätzlich regierungskritischen Oberschicht, die ihr Geld im Ausland geparkt hat. Und nicht zuletzt sind es Großinvestoren aus Russland und China, ohne deren Kredite das Land längst pleite wäre. "Sie alle eint die Furcht, mit einem Staatsbankrott ihr Geld zu verlieren", sagt Evans. Seiner These zufolge ist Maduro die Versicherung der Aktionäre gegen die Zahlungsunfähigkeit. Er sei noch im Amt, weil er immer artig zahle. Im Oktober steht die nächste Milliardentranche an.

Um die Schulden bezahlen zu können, druckt die Regierung Geld

Um die Forderungen bedienen zu können, bleibt der Regierung nichts anderes übrig, als so viel Geld wie möglich zu drucken. Das heizt die Inflation an. Für einen großen Teil der Bevölkerung sind die meisten Lebensmittel, die es in den Läden noch gibt, deshalb unbezahlbar geworden. Das Land hat sich in einen einzigen Schwarzmarkt verwandelt. Dort werden für einen US-Dollar 4300 Bolívares bezahlt. Der staatlich kontrollierte Wechselkurs liegt bei etwa eins zu zehn. Je nachdem, zu welchem Kurs man rechnet, kostet ein Hamburger in einem Mittelklasserestaurant also 4,60 Dollar oder 2000 Dollar.

Noch 2016 schleppten die Geldwechsler Plastiktüten voller gebündelter Scheine an, wenn man Devisen eintauschte. Inzwischen haben sie auf Kartenzahlung umgestellt. Wer einem Schwarzmarkthändler 100 Dollar bringt, bekommt nun den Zugang zu einem Girokonto, auf dem 430 000 Bolívares hinterlegt sind. Venezuela hat nicht einmal mehr genügend Papier, um das Geld zu drucken, das im Tagesgeschäft gebraucht wird. José Guerra sagt: "Wir befinden uns in einem Teufelskreis, aus dem es kein Entrinnen gibt."

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