Die Tage werden kürzer, die Stürme stärker, die Pfützen größer – und doch: Vom viel beschworenen „Herbst der Reformen“ ist weiter nichts zu sehen. Zwar wollen Union und SPD noch diese Woche die Regeln für Bürgergeldbezieher ein wenig verschärfen. Ansonsten aber erschöpft sich der Modernisierungseifer der Koalition bisher in „Reförmchen“ wie der geplanten Steuerfreiheit für Überstundenzuschläge – eine Maßnahme, die einem Arbeitnehmer vielleicht zwei, drei Euro mehr pro Stunde brächte. Der Fachkräftemangel lässt sich so jedenfalls nicht beheben.
Mitten in diesem Herbst der Reförmchen erscheint nun ein Gutachten des wissenschaftlichen Beraterkreises beim Wirtschaftsministerium, das dem Land schonungslos den Spiegel vorhält. Zu sehen sind eine Volkswirtschaft und eine Gesellschaft, die sich zu lange auf den Erfolgen der Vergangenheit ausgeruht haben. Die satt, saturiert und behäbig geworden sind und die Friedensdividende nach dem Mauerfall für eine massive Ausweitung des Sozialstaats genutzt haben, statt sich fit zu machen für die politischen und ökonomischen Herausforderungen des neuen Jahrhunderts.
Ergebnis ist, dass das Wirtschaftsmodell eines ganzen Landes auf der Kippe steht. Entsprechend wird es nicht reichen, hier die Sanktionen für arbeitsunwillige Bürgergeldempfänger ein wenig zu verschärfen und dort die Abschreibungsmöglichkeiten für Firmen aufzuhübschen. Nötig ist vielmehr ein grundlegender Mentalitätswandel: weg vom Sicherheitsdenken und dem Vollkasko-Anspruch an den Staat, hin zu mehr Eigenverantwortung, Leistungs-, Risiko- und Veränderungsbereitschaft. Das gilt für Bürger wie Betriebe gleichermaßen.
Ideen, was konkret zu tun ist, gibt es zuhauf. Subventionen und Vorschriften für Firmen könnten zum Beispiel grundsätzlich mit Ablaufdaten versehen werden, was die Beweispflicht bei einem Wunsch nach Verlängerung umkehren würde. Beim Datenschutz, der vielen neuen KI-Anwendungen im Wege steht, wäre statt der geltenden Einwilligungs- eine Widerspruchsregel denkbar. Arbeitnehmer müssten sich besser weiterbilden, um etwa von der Verbrenner- in die E-Auto-Produktion wechseln zu können. Auch die Beschränkung der Kranken- und Pflegekassen auf das Notwendige bei paralleler Pflicht zum Abschluss privater Zusatzversicherungen könnte Teil einer Modernisierungsagenda sein.
Allerdings: Viele Forderungen, auch die des Beraterkreises beim Wirtschaftsministerium, setzen allein auf bessere Geschäftsmöglichkeiten für Unternehmen, während die Bürger zusätzlich belastet würden. Eine solche Unwucht aber macht jede Reform zunichte: Zum einen hemmt sie den Konsum und damit einen entscheidenden Wachstumsfaktor, der wegen der zeitweise hohen Inflationsraten und dem Beitragsschock seit 2022 ohnehin schwächelt. Zum anderen benötigt jedes große Modernisierungsvorhaben breite gesellschaftliche Akzeptanz, die es aber nur gibt, wenn die Menschen das Gefühl haben, dass jeder gemäß seiner Leistungsfähigkeit zum Gelingen beiträgt – also beispielsweise auch Vermögende, reiche Firmenerben und andere Gutbetuchte. Für die Politik heißt das: Wer reformieren möchte, braucht nicht nur Veränderungswillen. Er muss auch bereit sein, auf Ideologie zu verzichten.

