Süddeutsche Zeitung

Wirtschaftskrise in Europa:Wie die spanische Mittelschicht verschwindet

Schöne Wohnung, guter Job: In Spanien hatten sich viele Menschen auf ein Leben in Sicherheit eingestellt. Doch die Krise ändert alles. Plötzlich haben normale Bürger Probleme, das Nötigste zum Leben zusammenzubekommen.

Joseba Elola, El País

Probleme der Mittelschicht waren ihm nie fremd. Jahrelang arbeitete Luis in der Rechtsabteilung der Bank Caja Madrid. Tag für Tag befasste er sich mit Papierkram zu Zahlungsverzug. Allmählich sah er, wie zu den klassischen Fällen der Zahlungsunfähigkeit neue Profile dazukamen, Profile von Leuten, die vorher nicht auf diesen Listen aufgetaucht waren, die nicht am Rande der Gesellschaft gestanden hatten, Menschen mit mittlerem Einkommen.

Er konnte voraussehen, dass er mit seinen 57 Jahren eines Tages selbst dafür würde kämpfen müssen, nicht auf einer solchen Liste zu landen, der Liste der Arbeitslosen. Auf der steht er jetzt, genau wie seine Frau, die schon seit fünf Jahren keine Arbeit mehr hat. Um jeden Monat über die Runden zu kommen, haben die beiden alles Überflüssige gestrichen, Kreditkarte sowieso, jetzt auch die Internetverbindung. Die können sie sich nicht mehr leisten.

Luis gehört zu den vielen Spaniern der Mittelschicht, die unter dem Druck der Krise ächzen. 35,9 Prozent der spanischen Haushalte haben laut spanischem Statistikamt keine Reserven für unvorhergesehene Ausgaben. Spanien ist zu einem Land geworden, in dem einer von vier Haushalten nur mit größter Mühe seine monatlichen Ausgaben decken kann. Das passt zu der Zahl, dass jeder vierte Spanier arbeitslos ist.

1400 Euro müssen für vier Personen reichen

Und während die Sparmaßnahmen und Entlassungen weitergehen, werden Elektrizität, Gas, öffentlicher Nahverkehr immer teurer, die Steuern steigen, darunter die Mehrwertsteuer. Das hebt die Preise, zwischen Januar 2008 und August 2012 betrug die Preissteigerung fast zehn Prozent.

Spanien ist inzwischen das Land mit der größten sozialen Ungleichheit Europas, es gibt immer mehr Arme, die von Wohnungsräumung bedroht sind, ganze Clans leben in kleinen Zimmerchen, gleichzeitig bleiben die Reichen reich, oder werden reicher. "Die Mittelschicht verschwindet. Wir sind wie Mammuts", sagt die 51-jährige Margarita, die wie Luis gerade aus dem Arbeitsamt nahe dem Bahnhof Atocha in Madrid kommt. Sie war Verwaltungsangestellte, seit drei Jahren ist sie ohne Job. Ihren Nachnamen will sie wie die meisten hier nicht nennen.

Ein Liter Benzin kostet mehr als ein Kaffee, sagt Luis. Doch von einem Auto kann er nicht mal träumen. Die Familien-Ersparnisse sind in den letzten Jahren zusammengeschmolzen. Der älteste Sohn, 27 Jahre alt, ist Praktikant bei einer Versicherung. Er arbeitet gratis, sagt Luis. So kommt es, dass die Einkünfte der vierköpfigen Familie sich insgesamt auf 1400 Euro belaufen. Luis lebt von Frührente, die 80 Prozent seines früheren Gehalts ausmacht.

23 Jahre arbeitete er bei Caja Madrid, die später in der inzwischen europaweit bekannten Skandalbank Bankia aufging. Im Juni trennte man sich von ihm. Die Hypothek beträgt 600 Euro im Monat. 300 Euro muss er für einen früheren Vorschuss zurückzahlen. Bleiben im Monat 500 Euro für ihn, seine Frau und die zwei Söhne.

Ferien sind nur noch eine ferne Erinnerung. Vergnügungen vor der Haustür gehören der Vergangenheit an. Adiós Buchklub, adiós Gewerkschaft, deren Beiträge er nicht mehr bezahlen kann. "Ich habe immer in einem Gefühl der Sicherheit gelebt und gearbeitet, aber jetzt ist alles anders", sagt er. Man fühle sich schon sehr schlecht. "Mit 57 habe ich doch keine Chance, eine Arbeit zu finden."

An den Türen des Arbeitsamtes ballen sich Geschichten wie die von Luis. Hortensia, 48 Jahre, war früher Verkäuferin, Sie sei sehr unruhig, sagt sie. Sie hat nur noch einen Monat lang Anspruch auf Leistungen. Einer ihrer Söhne hat sein Studium hingeworfen, um im Supermarkt zu arbeiten, aber das dauerte nur drei Monate. Der zweite Sohn ist ebenfalls arbeitslos.

Es ist eine stille Tragödie, die sich jeden Tag in der spanischen Gesellschaft abspielt. Nicht mal ihren Vornamen nennen will eine gut ausgebildete Frau von 50 Jahren, die bei einer großen Beratungsfirma arbeitete und zum ersten Mal zum Arbeitsamt geht. Sie und ihr Mann wurden gleichzeitig arbeitslos. "Wir haben viele gleichaltrige Freunde in derselben Situation", sagt sie. "Was sollen wir machen, bis wir 67 sind? Wir kriegen noch keine Pension und bald keine Sozialversicherung mehr. "

Isabel, 55, arbeitete als Konditorin, kauft jetzt nur noch Discounter-Ware, ausgehen ist abgesagt. Stattdessen trifft man sich mit Freunden zu Hause und guckt Filme, die man aus dem Internet heruntergeladen hat. José Antonio klagt, dass die Krise viele Spanier mit einem Federstrich zu Bürgern zweiter Klasse gemacht habe.

Luisa, 60 Jahre, hat mit angesehen, wie sie ihr und ihrem Mann das Gehalt immer wieder gekürzt haben. Sie ist besorgt, weil ihr 33-jähriger Sohn trotz Universitätsabschluss bisher nur Arbeit auf dem Bau und in einer Pizzeria gefunden habe.

Luis Fernández ist Sprecher der Arbeitslosenorganisation Adesorg. Er sagt: "Die, die schon lange arbeitslos sind, haben sich daran gewöhnt. Wir leben nach Plan B, sind wie die Sklaven und bekommen bald Federn vom vielen Hühnchenessen." Was nun aber mit der Mittelschicht passiert, besorgt ihn. "Die sind bald auch ganz unten, das wird ein brutales Trauma. Sie hatten ihr Leben im Griff, wenn auch ohne großen Luxus, und werden bald niemand mehr sein."

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SZ vom 18.10.2012/josc
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