Süddeutsche Zeitung

Wirtschaftsforschung:Wenn liberal asozial bedeutet

Ökonomen suchen Erklärungen, warum die Globalisierung für Arbeitnehmer, Linke und Rechtspopulisten gleichermaßen zum Feindbild wird. Wie konnte es passieren, dass der Liberalismus so in Misskredit geriet?

Von Alexander Hagelüken, Berlin

"Wir lassen uns nicht mehr ausnutzen", schleuderte Präsident Donald Trump gerade in Asien bisherigen Handelspartnern der USA entgegen. Mit Trump hat es die Kritik an der Globalisierung ins mächtigste Amt der Welt geschafft. Aber natürlich reicht der neue Widerstand gegen den prägenden Wirtschaftstrend der vergangenen Dekaden viel weiter: er umfasst überall im Westen enttäuschte Arbeitnehmer, Linke und Rechtspopulisten gleichermaßen. "Die Krise der Globalisierung" hieß passenderweise eine Konferenz, auf der jetzt Ökonomen eher jenseits des Mainstreams nach Antworten suchten.

Für Samuel Bowles hat sich die Globalisierung ihre Probleme selbst bereitet. Der 78-jährige US-Altmeister der Ungleichheitsforschung nahm sich auf dem Forum for Macroeconomics die Geschichte des Liberalismus vor, der in seiner ökonomischen Variante mit der Betonung von Eigentum, freien Märkten und Handel als Basis der Globalisierung gelten darf. Mit Werten wie individuellen Freiheitsrechten und Toleranz war der Liberalismus für Bowles seit dem 18. Jahrhundert ein "Markenzeichen einer guten Gesellschaft" - der Einzelne wurde freier vom übermächtigen König und der Kirche. Dazu gehörte die Verteidigung der Schwachen gegen die Starken genau wie der Schutz von Minderheiten. Doch genau solche Ziele verrate der Liberalismus, seit er "sich mit einem Wirtschaftsmodell vermählt das garantiert Ungleichheit fördert": Laissez-faire-Kapitalismus mit Vorfahrt für Stärkere wie Konzerne.

Mit Demokratie und Wohlfahrt wurden westliche Gesellschaften vorübergehend gleicher

Da der Liberalismus Eigentumsrechten ethischen Rang verleihe, sei der Anteil des reichsten ein Prozent Bürger am Vermögen schon früh explodiert: in England zwischen 1740 und 1900 von 45 auf 70 Prozent. Als sich im 20. Jahrhundert Demokratie und Wohlfahrtsstaat durchsetzten, wurden die westlichen Gesellschaften zwar vorübergehend gleicher. Doch mit der Globalisierung entwickelten sie sich seit den Achtzigerjahren wieder auseinander. Der Niedergang von Industriegegenden und die Stagnation der Arbeitnehmer brächten den Liberalismus völlig in Misskredit - und stempelten Migranten zu Sündenböcken. Der Ausweg daraus sei, sich wieder auf frühe Liberale zu besinnen. Also Schwache zu verteidigen, Arbeitnehmer abzusichern und wirtschaftliche Macht demokratisch zu kontrollieren. Anders gesagt: Liberal darf nicht mehr asozial bedeuten.

Deutlicher als Bowles formuliert Branko Milanovic, dass es zum Wohle der Menschheit wäre, die Globalisierung zu verteidigen. Um ihre Akzeptanz zu sichern, forderte der frühere Weltbankforscher im Westen mehr Umverteilung - in den USA sei die Mittelschicht seit den Achtzigerjahren von 32 auf 27 Prozent geschrumpft.

Im Rest der Welt komme es darauf an, ob es noch mehr Staaten gelinge, sich nach dem Vorbild Chinas dem Wohlstand der Industriestaaten anzunähern. Hans-Jörg Herr von der Berliner Hochschule für Wirtschaft und Recht Berlin sieht das skeptisch. Zwar beobachtet er etwa bei Indien einen Aufholprozess. Doch wenn er die Pro-Kopf-Wirtschaftsleistung vieler großer Staaten mit der Entwicklung der USA vergleicht, bleibt das die Ausnahme. Seit 1950 verharren demnach Südafrika, Kenia oder Nigeria unter 20 Prozent des US-Niveaus - oder fielen gar unter dieses Niveau. Argentinien, Brasilien oder Mexiko haben zwar eine höhere Wirtschaftsleistung, annähern konnten sie sich nach diesen Daten ebenfalls nicht.

Nach Herrs Einschätzung helfen weder globale Lieferketten noch ausländische Direktinvestitionen diesen Staaten besonders viel. Die globale Präferenz von Anlegern für einige wenige Währungen wie etwa den US-Dollar schaffe zusätzliche Probleme. Er zitiert außerdem Dani Rodrik mit der Diagnose, die industriellen Chancen all dieser Länder seien begrenzt, weil es schon anderswo genug Kapazitäten für die Produktion der weltweit nachgefragten Waren gäbe.

Moritz Schularick lenkt den Blick auf die politischen Folgen des Unmuts an der Globalisierung. Der Bonner Ökonom kommt zu dem Schluss, die Globalisierung löse zwar nicht per se mehr Finanzkrisen aus als früher. Internationale Kapitalströme fachten aber Kreditwellen an, und Länder importierten durch die Vernetzung häufiger finanzielle Instabilität von woanders. Die Globalisierung verschärfe also Entwicklungen, die Finanzkrisen auslösten. Ist so eine Katastrophe wie 2008 erst mal passiert, profitieren bei den Wählern der Industriestaaten zwar nicht linke Parteien, wie man denken könnte. Es gewinnen aber Rechtspopulisten, die ihre Stimmenanteile im Regelfall fast verdoppeln.

Warum? "Rechtspopulisten sind sehr geschickt daran, andere verantwortlich zu machen. Und das passt: Nach der Finanzkrise wollen Menschen einen Schuldigen", sagt Schularick, der den politischen Fallout von Finanzkrisen für lange Zeiträume untersucht hat. Der Aufstieg von Akteuren wie Trump, Marine Le Pen oder Jarosław Kaczyński passt dazu. Die Globalisierung, warnt Schularick, trägt den Keim des eigenen Untergangs in sich. Neben Finanzkrisen meint er damit etwa Ungleichheit: "Der Aufstieg des Populismus ist eine starke aktuelle Gefahr für die offene Weltordnung."

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SZ vom 14.11.2017
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