Süddeutsche Zeitung

Wirtschaftsforscher Schulmeister über Schuldenkrise:"Griechenland ist ein Sündenbock"

Griechenland ist selbst schuld an seiner Misere? Ökonom Stephan Schulmeister widerspricht - die EU-Gläubiger wollten von eigenen Problemen ablenken.

Von Ruth Fulterer

Der Ökonom Stephan Schulmeister war Wirtschaftsforscher am renommierten Wifo-Institut in Wien. Er übt in seinen Arbeiten vehemente Kritik an Finanzspekulationen und an der neoliberalen Wirtschaftsordnung.

SZ: Herr Schulmeister, Sie haben dazu aufgerufen, Syriza zu unterstützen. Hat die griechische Regierung klug verhandelt?

Stephan Schulmeister: Von Verhandlungen kann nicht die Rede sein! In Verhandlungen tauscht man Argumente aus - doch in der Euro-Gruppe hat sich ein Religionskrieg entwickelt. Gerade weil Syriza die Kritik am Sparkurs nicht nur auf das eigene Land bezog, ging es in der letzten Zeit immer mehr um das Dogmatische, das Grundsätzliche.

Die Diskussion über die griechischen Schulden und die Schuld der Griechen ist moralisch aufgeladen - zu Recht?

Natürlich ist es legitim, zu verlangen, dass Schulden zurückbezahlt werden. Doch zum Schuldenmachen gehören zwei: Einer, der die Kredite aufnimmt, und einer, der sie gibt. In einem ökonomischen System entspricht jedem Defizit ein Überschuss - das nicht zu bedenken ist ein Fehler der Politik und der Wirtschaftswissenschaften. Zu sagen: "Wer ein Defizit hat, ist schuld" ist ein intellektueller Super-Gau.

Wie meinen Sie das?

Im konkreten Fall ist die Situation schnell erklärt. Deutschland hatte zwischen 2000 und 2007 die schwierigste Phase der Nachkriegszeit. Fünf Millionen Arbeitslose! In dieser schwierigen Zeit wurde die deutsche Wirtschaft gestützt, weil die Länder Südeuropas, neben Griechenland auch Portugal, Spanien und Italien, ihre Importe deutlich ausgeweitet haben. Vor allem die deutsche Wirtschaft hat davon profitiert, dass die Südeuropäer über ihre Verhältnisse gelebt haben.

Wer hätte die Gefahren dieser ungleichen Beziehung erkennen müssen?

Wenn eine Gruppe beschuldigt werden kann, sind es die Wirtschaftswissenschaftler - jene, die gut bezahlt werden, um Systeme zu analysieren. Genau das tun sie aber selten. Sie haben nur die Symptome der Krankheit im Blick und suchen nicht nach den tieferen Ursachen - das Ergebnis davon ist Unsinn wie: "Wer Schulden hat, ist schuld", "Wer ein Defizit hat, muss sparen", "Wenn die Arbeitslosigkeit steigt, sind die Löhne zu hoch". Die Realität ist komplexer.

Griechenlands Strukturprobleme sind nicht zu leugnen. Muss sich Griechenland nicht an die Standards anderer Länder anpassen, damit die Wirtschaft wieder wachsen kann?

Griechenland hat gewaltige Strukturprobleme, doch mit der Katastrophe nach dem Ausbruch der Finanzkrise im Jahr 2008 haben die so gut wie nichts zu tun. Das zeigt die Empirie: Wenn man sich die Entwicklung seit den 1950er Jahren anschaut, also immerhin 65 Jahre, kann man feststellen, dass die griechische Wirtschaft 58 Jahre deutlich schneller gewachsen ist als etwa die deutsche Wirtschaft. Und das trotz Korruption und Klientelismus in Griechenland. Das bedeutet, dass wir die Ursache der Krise woanders suchen müssen.

Sie bezweifeln also, dass das erneute Sparen Griechenland auf den richtigen Weg bringen wird?

Nehmen wir das Beispiel der Beamten: In Griechenland gibt es übermäßig viele Staatsdiener. Das ist eindeutig eine Folge des korrupten Systems. Doch in dieser Situation Hunderttausende Beamte zu entlassen, um einen Teil des Strukturproblems zu lösen, hat genau den gegenteiligen Effekt: Es stürzt ein Land in die Depression - noch mehr Leute sind ohne Arbeit, die Nachfrage sinkt, Unsicherheit macht sich breit und die Krise verschärft sich.

Man hätte die überhöhten Staatsschulden Griechenlands also schon vor der Krise angehen müssen.

Natürlich. Aber man muss auch sehen, dass die Staatsschulden in sämtlichen europäischen Ländern seit mindestens 30 Jahren steigen. Wenn 28 Länder ihre Schulden erhöhen, dann gibt es ein Land, in dem sie am schnellsten steigen. Daraus aber jetzt denjenigen zu machen, bei dem die Hauptschuld liegt, dient nur dazu, das eigene Gewissen zu entlasten - Griechenland ist ein klassischer Sündenbock, wie er im Alten Testament beschrieben wird. Man schickt das Land in die Wüste, lässt es im Stich, ob mit oder ohne Euro. Was die vermeintlichen Rettungsmaßnahmen bewirken werden, ist eine weitere Verschlechterung - daran besteht überhaupt kein Zweifel.

Haben aber nicht ebensolche Maßnahmen in anderen Ländern wieder zum Aufschwung geführt?

Das ist eine verzerrte Darstellung. In Spanien und Portugal sind die Staatsausgaben zwischen 2008 und 2015 gestiegen, gesunken sind sie nur in Griechenland. Im selben Zeitraum ist die Zahl der Arbeitslosen in Griechenland sehr viel stärker gestiegen als den Vergleichsländern. Empirisch besteht da ein Zusammenhang: Je mehr gespart wurde, desto mehr hat sich die Lage verschlechtert. Und Griechenland bekam eine Sonderbehandlung, das radikalste Sparprogramm der Geschichte der europäischen Währungsunion.

Was bedeutet diese Radikalität für die Griechen?

Die Not der Menschen wird sich vergrößern. Aber das ist der Politik in Deutschland und auch in anderen Ländern egal. Das erschüttert mich persönlich sehr. Es interessiert niemanden, dass Millionen Menschen in einem europäischen Land keine Krankenversicherung mehr haben. So zerstört sich das europäische Sozialmodell langsam selbst - was ja letztlich Ziel neoliberaler wirtschaftswissenschaftlicher Theorien gewesen ist. Sie hatten immer den Zweck, den Sozialstaat zu beseitigen und die Gewerkschaften zu entmachten. Und sie verfolgten diese Intentionen durchaus offen. Diese Theorien sind sozusagen Teil eines Krieges, der so lange fortgeführt werden wird, bis er in eine allgemeine gesellschaftliche Krise mündet - und das wird der Fall sein.

Und dann?

Dann wird man sich etwas Neues einfallen lassen müssen. Denn irgendwann ist das Ende einer Sackgasse erreicht, und dann muss man umdrehen, da hilft nichts. Europa braucht einen new deal: neue Spielregeln, damit die Finanzwirtschaft wieder der Realwirtschaft dient - und nicht umgekehrt. Und Investitionen müssen zur Bekämpfung des Klimawandels und ganz generell zur Verbesserung der Lebensbedingungen getätigt werden.

Hat die Politik die Macht dazu, die Rahmenbedingungen so grundlegend zu ändern?

Klar, ein einzelner Staat kann das nicht durchsetzen, aber für die Europäische Union wäre das kein Problem. Europa könnte sich eine viel bessere Welt gestalten.

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