Wirtschafts-Nobelpreis:Nobelpreisträger Selten gestorben: Das Vermächtnis eines großen Querdenkers

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"Im Grunde wissen wir fast nichts über Wirtschaft, und das,was wir glauben, stützt sich auf falsche Modelle": Reinhard Selten wurde 85 Jahre alt.

(Foto: Thomas Frey/Imago)

Reinhard Selten war der einzige Deutsche, der bisher den Nobelpreis für Wirtschaft erhalten hat. Nicht nur Ökonomen können viel von ihm lernen.

Von Jan Willmroth

Es gibt Wissenschaftler, an die man sich erinnert, weil sie der Welt wichtige Erkenntnisse hinterlassen, Forschungspapiere, die oft zitiert werden; weil sie Zusammenhänge erkennen, die helfen, die Welt besser zu verstehen. Und es gibt Forscher wie den Mathematiker und Ökonomen Reinhard Selten, ohne die ein Fach nicht das wäre, zu dem es bis heute geworden ist.

Selten, der bislang einzige deutsche Wirtschaftsnobelpreisträger, war in mehrfacher Hinsicht ein Pionier. Er hat die Spieltheorie als Teilgebiet der Wirtschaftsforschung geprägt, er war einer der Ersten weltweit, die den Menschen als wirtschaftliches handelndes Subjekt in Experimenten erforscht haben.

"Wer wissen will, was in der realen Welt los ist, muss empirische und experimentelle Arbeit leisten", sagte Selten. "Die Realität kann sich keiner am Schreibtisch ausdenken." Genau das aber haben Ökonomen schon immer getan. Es ist noch nicht lange her, da waren solche Sätze für einen Wirtschaftsforscher bemerkenswert.

"Ich musste immer unabhängig denken", sagte Selten

Selten wurde im Oktober 1930 in Breslau als Sohn eines jüdischen Buchhändlers geboren, der 1942 im Zweiten Weltkrieg umkam. Erst kurz vor Kriegsende im Jahr 1945 konnte Selten mit seiner Mutter, seinen Brüdern und seiner Schwester mit einem der letzten Züge vor der sowjetischen Besatzung fliehen, nach Sachsen, nach Österreich, schließlich ins hessische Melsungen. Diese Erfahrung als Flüchtling hat ihn zeitlebens geprägt.

Selten selbst sagte einmal, er habe von klein auf lernen müssen, seinen eigenen Urteilen mehr zu vertrauen als politischer Propaganda, der öffentlichen Meinung, dem, was die Masse denkt. "Ich habe immer der Mehrheitsmeinung misstraut", sagte er, "ich musste immer unabhängig denken." Das habe starken Einfluss auf seine intellektuelle Entwicklung gehabt. Selten war als Forscher stets bekannt für seine radikale Unangepasstheit.

Das Psychologiestudium hat Selten experimentieren lassen

Nach dem Abitur in Hessen studierte er Mathematik in Frankfurt, das reichte ihm nicht, er besuchte auch volkswirtschaftliche Vorlesungen, weil ihm der gesellschaftliche Bezug so wichtig war. Schon als Kind war seine mathematische Begabung aufgefallen, sein Studium aber dauerte, weil er so vielfältig interessiert war. Astronomie fand sich auf seinem Lehrplan, Psychologie, auch die Physik ließ er nicht außer Acht.

Sein Psychologiestudium sei es gewesen, das ihn mit Experimenten vertraut machte, sagte er einmal: "Die Herangehensweise leuchtete mir ein." Wirtschaft ohne Psychologie ist heute schwer vorstellbar, die Wirtschaftswissenschaften wären ohne psychologische Erklärungsansätze nicht komplett.

Nobel-Gedächtnispreis mit John Nash

Genauso wenig, und auch da hat Selten Pionierarbeit geleistet, käme die moderne Ökonomik ohne die Spieltheorie aus. Im Jahr 1967 forschte Selten an der Universität von Kalifornien in Berkeley, er traf dort den Spieltheoretiker John Charles Harsanyi, mit dem er zusammen publizierte.

Die Spieltheorie, ein mathematischer Baukasten zur Analyse von Entscheidungssituationen, gehört heute zu den wichtigsten Instrumentarien der Wirtschaftsforschung. Sie überträgt das Verhalten bei Gesellschaftsspielen auf Märkte, denn auch dort verhalten sich Menschen strategisch, sie beziehen die wahrscheinlichen Überlegungen anderer in ihre Entscheidungen mit ein.

Selten wurde berühmt mit einer hoch komplexen Erweiterung des nach dem Mathematiker John Nash benannten "Nash-Gleichgewichts", einer Situation des stabilen Zustands in Spielen, in der es sich für keinen der Beteiligten lohnt, sein Verhalten zu ändern. Für die Welt von heute ist das unschätzbar wichtig, sei es für Auktionen, die Analyse von politischen Konflikten oder Weltklimaverhandlungen.

Als Selten den Nobelpreis erhielt, war er längst weiter

Viele Jahre später, Selten war längst Universitätsprofessor in Bonn, er hatte das Bonner Laboratorium für experimentelle Wirtschaftsforschung aufgebaut, erhielt er im Jahr 1994 gemeinsam mit Harsanyi und Nash als bislang einziger Deutscher den Nobel-Gedächtnispreis für seine spieltheoretischen Arbeiten.

Da war Selten längst weiter. Das rational denkende und handelnde Individuum, der Homo oeconomicus, war in der klassischen Spieltheorie Standard, Selten hatte ihn schon früh angezweifelt. Vielleicht wären die Menschen gern so rational, wie die Ökonomik sie beschreibt, sagte Selten, "aber das menschliche Gehirn ist auf diese Art von Rationalität nicht eingerichtet". Also widmete er sich der experimentellen Forschung, wurde dafür ausgelacht, später dann gerühmt, er hat stets daran geglaubt, unbeirrt.

Und wenn man heute Weggefährten Seltens fragt, was ihn überdauern wird, dann erwähnen sie auch genau diese noch lange nicht gelöste Aufgabe: die Wirtschaftswissenschaft um Modelle zu bereichern, die besser abbilden, wie unvernünftig Menschen wirklich sind. Wie jetzt bekannt wurde, ist der große Wissenschaftler Reinhard Selten am 23. August in Posen gestorben.

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