Wachstum:Warum Deutschland nicht mehr Primus ist

Industrie: Produktion beim Automobilzulieferer Bosch

Produktion von Dieseleinspritzpumpen beim Zulieferer Bosch: Die Verunsicherung der Autoindustrie ist ein Grund, warum die deutsche Wirtschaft nicht mehr so schnell wächst.

(Foto: picture-alliance/ dpa)
  • Die deutsche Wirtschaft war jahrelang Vorbild für andere Nationen und zog sie mit. Doch 2019 findet sich das Land plötzlich als Bremser wieder.
  • Woran das liegt? Auf diese Frage gibt es keine ganz eindeutige Antwort. Sorgen macht Ökonomen aber die zutiefst verunsicherte Autoindustrie.
  • Weltbank und Internationaler Währungsfonds (IWF) drängen Deutschland, mehr fürs Wachstum zu tun.

Von Cerstin Gammelin, Washington

Wirtschaftslokomotive. Es gehörte lange zum guten Ton, dass der Wirtschaftskommissar der Europäischen Kommission diesen Begriff verwendete, um Deutschlands ökonomische Kraft zu würdigen. Die größte Volkswirtschaft Europas zog dank ihres hohen Anteils an industrieller Wertschöpfung und vielen Zulieferbetrieben jenseits der Grenzen andere Staaten mit. So war es bis 2018. Und jetzt? 2019 findet sich die Bundesrepublik unerwartet als Bremser wieder. Während die Euro-Staaten ohne Deutschland solide um 1,4 Prozent des Bruttosozialproduktes zulegen, wächst die deutsche Volkswirtschaft wohl nur um 0,5 Prozent.

Bei der Herbsttagung von Weltbank und Internationalem Währungsfonds (IWF) in Washington geriet Deutschland deutlich unter Druck, mehr fürs Wachstum zu tun. Deutschland falle negativ aus dem Rahmen, verlautet auch aus EU-Institutionen. Die Frage ist nun, warum? Die Spurensuche führt zu unterschiedlichen Antworten, die erstaunlich klar von der Sicht des Betrachters abhängen. Was, nebenbei bemerkt, den Wirtschaftswunder-Kanzler Ludwig Erhard bestätigt, der einst befand, dass Wirtschaft zu 50 Prozent Psychologie sei.

Bundesfinanzminister Olaf Scholz (SPD) fühlt sich dazu berufen, die Bundesbürger nicht zu verunsichern, und setzt auf den Boomfaktor Optimismus. Er sei nicht in Sorge wegen des langsameren Wirtschaftswachstums, sagt Scholz am Wochenende in Washington. Die Volkswirtschaft wachse, man habe beinahe Vollbeschäftigung und investiere so viel wie lange nicht mehr. Geld sei genug da: "Ich glaube, dass wir sicherstellen müssen, dass das viele Geld investiert wird." Und die Risiken? Er wünsche sich, dass es endlich beim Handel zu einer Verständigung zwischen den USA und China komme, beim Brexit gebe es ja Fortschritte. Die Krisen seien weitestgehend menschengemacht, also könne man sie auch beheben. Alles wird gut?

Die größte deutsche Branche, die Autoindustrie, wirkt unsicher

Jens Weidmann, der oberste deutsche Notenbanker, dagegen will sich da nicht so festlegen. "Wir erleben eine zweigeteilte Entwicklung", sagt er in Washington. Die Industrieproduktion sinke. Aber die Binnenwirtschaft sei robust, weswegen es immer noch Wachstum gebe in Deutschland. "Die Frage ist jetzt, ob die schleppende Industrieproduktion auf die Binnenwirtschaft überschwappt." Und, wird sie? Weidmann hat keine Antwort darauf. Er sei überzeugt, dass alles davon abhänge, ob es gelinge, Unsicherheiten zu beseitigen, damit Unternehmen investierten. "Investitionen sind eine Wette auf die Zukunft. Wenn man unsicher ist, was die Zukunft bringt, wartet man ab und investiert nicht."

Das Problem ist, dass ausgerechnet die größte Branche seit einiger Zeit genau das ist: verunsichert. Die Autoindustrie durchlaufe "eine gewisse Sonderkonjunktur", sagt Weidmann. Auf die Branche entfallen ungefähr 20 Prozent des gesamten Umsatzes des verarbeitenden Gewerbes in Deutschland. Hat die Branche einen Schnupfen, niest die ganze Industrie.

Lange Zeit war man in Deutschland stolz auf seine Industrie. Anders als etwa Großbritannien hatte die Bundesrepublik den traditionellen Maschinenbau, die Chemie und die Elektroindustrie nicht eingemottet, sondern konsequent auf Export ausgerichtet. Die Industrie trägt ein knappes Drittel zum Bruttosozialprodukt bei; in Frankreich und Großbritannien sind es rund zehn Prozent weniger. Das produzierende Gewerbe sei der "Wachstumskern", der Deutschland zum wettbewerbsfähigsten Land der Euro-Zone gemacht habe, heißt es beim Bundesverband der Industrie. Aber jetzt ist ausgerechnet die Industrie der verwundbare Teil der deutschen Wirtschaft. Die Autobranche steckt in einer strukturellen Krise: Wegen des Klimawandels muss sie ihre gesamte Angebotspalette überarbeiten. Und der Abgasbetrug hat das Vertrauen der Käufer erschüttert.

Am 15. November läuft ein Ultimatum ab. Dann drohen Zölle auf deutsche Autos

Und dann ist da noch Donald Trump. Der US-Präsident sieht sein Land benachteiligt, verhängt Sonderzölle. Am 15. November läuft ein Ultimatum der Amerikaner aus, sollten bis dahin keine Handelsgespräche zwischen Europa und den USA aufgenommen worden sein, drohen Zölle auf europäische und insbesondere deutsche Autos. In Washington hat Scholz versucht, die US-Seite zu besänftigen. Aber wer weiß schon, was Trump machen wird?

Die neue IWF-Chefin Kristalina Georgiewa hat die Idee ins Spiel gebracht, einen größeren "Gruppendruck" auf Länder auszuüben, damit die Regeln des Welthandels befolgt würden. Sie erwartet für 2019 nur noch ein weltweites Wachstum von drei Prozent, so wenig wie seit der großen Finanzkrise 2008 nicht mehr. "Das Tempo hat sich seit April noch einmal verlangsamt", die Risiken erscheinen weitgehend Trump-gemacht: Handelsstreit, politische Unsicherheiten und geopolitische Krisen.

Die Abschlusserklärung enthält auch zwei an Deutschland adressierte Forderungen, die erklären, warum Deutschland zum Sonderfall geworden ist: Bereits im zweiten Absatz findet sich der Hinweis, dass Staaten mit finanziellen Spielräumen diese nutzen sollten, um den Konsum anzukurbeln. In Deutschland haben Bund, Länder und Sozialversicherungen im ersten Halbjahr 2019 einen Überschuss von 2,6 Prozent des Bruttosozialproduktes ausgewiesen. Milliarden Euro liegen in den Kassen, die den Bürgern als Steuer- oder Beitragssenkung zurückgegeben werden könnten.

Immerhin: Georgiewa lobt das deutsche Klimapaket.

Ein paar Absätze weiter findet sich die Forderung, "exzessive globale Ungleichgewichte zu reduzieren". Auch das ist ein Problem: Die Bundesrepublik hat 2018 erneut weltweit den größten Überschuss in der Leistungsbilanz erzielt; Deutschland produziert viel mehr an Waren und Dienstleistungen, als es selbst verbraucht. Der Überschuss der Deutschen sind die Schulden der anderen.

Scholz hat den Eindruck vermieden, dass es bald noch schlechter laufen könnte. In seinem Ministerium aber bereiten Experten Szenarien vor für den Fall, dass der Welthandel tatsächlich einbricht. Eine Möglichkeit wäre, dass die hocheffiziente Exportwirtschaft dann mehr für den Binnenmarkt produziere. Und Scholz selbst hat für den Fall der Fälle ein großes Konjunkturpaket angekündigt.

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