Am 25. Oktober 1786 schreibt Goethe abends in Perugia an seine geliebte Charlotte von Stein. "Dieses Italien, von Natur höchlich begünstiget, blieb in allem Mechanischen und Technischen, worauf doch eine bequemere und frischere Lebensweise gegründet ist, gegen alle Länder unendlich zurück." Verdruss bereitet Goethe die "leidige Fahrt" mit der Vetturine. "Man wird wie vor Jahrhunderten noch immer fortgeschaukelt, und so sind sie in ihren Wohnungen und allem." Es friert ihn und er tadelt: "Mit einer unglaublichen Sorglosigkeit und unerhörtem Leichtsinn versäumen sie, sich auf den Winter vorzubereiten, und leiden deshalb wie die Hunde." Goethes Reisetagebuch entstand in einer der dunkelsten Epochen der Mittelmeerhalbinsel. Italien war aus den Höhen der Renaissance, als es mit seinem Knowhow und Wohlstand die ganze Welt überragte, abgestürzt und sollte noch lange abgeschnitten bleiben von Europas neuen Fortschrittsregionen.
Über 200 Jahre nach der Veröffentlichung der "Italienischen Reise" ist das Land wieder tief gefallen. Die schwerste Wirtschaftskrise seit der nationalen Einheit 1861 hat Verheerungen angerichtet. In Deutschland schaut man nun herab: Italien sei nicht wettbewerbsfähig auf den Weltmärkten, heißt es. Nicht fit für die Digitalisierung und, natürlich, nicht reif für den Euro. Das Korsett der gemeinsamen Währung habe seine Wirtschaftskraft abwürgt. Und jetzt löst sich auch noch die Politik in Chaos auf. Arrivederci Italia!
Es ist die alte Leier, die neuerdings noch etwas schärfer klingt. Sogar vom Verschwinden der italienischen Industrie ist hierzulande jetzt zu lesen. Das ist anmaßend, falsch und riskant. Denn da ist die tiefere Ebene dieses Abgesangs: Er stimmt ein auf den Machtkampf um die Durchsetzung nationaler Interessen bei der Zukunftsgestaltung Europas. Und bereitet den Boden, um einer stärkeren wirtschaftlichen Integration den Riegel vorzuschieben: Es gehe eben doch nicht, so stark divergierende Länder aneinander zu ketten. Schluss mit der Alimentierung des Südens. Schluss damit, Reformverweigerern die Schuldenmacherei zu finanzieren. Hundertmal gehört. Wer der beharrlichen Erzählung glaubt, zieht zwangsläufig falsche Schlüsse.
Italien ist der zweitgrößte Hersteller von Industriegütern in Europa
Auch wenn Italien nicht immer ausdrücklich erwähnt wird, so ist doch allen klar: Es geht um die drittgrößte Volkswirtschaft der Eurozone, deren Staatsschulden auf 132 Prozent der Wirtschaftsleistung gestiegen sind. Ein Land too big to fail, dessen Kollaps nicht nach griechischem Muster eine Krise, sondern gleich eine Katastrophe auslösen würde.
Und es geht um steile Thesen. Von FDP-Chef Christian Lindner, der Euro-Staaten im Zweifel in die Pleite schicken und aus der Währungsunion ausscheiden lassen will. Oder von Janis Varoufakis, dem früheren griechischen Finanzminister, der fordert: "Italien muss raus aus dem Euro". Die Ratingagentur Standard & Poor´s sah dagegen im Oktober die Zeit gekommen, die Kreditwürdigkeit Italiens eine Note hochzusetzen. Zum ersten Mal seit 1988. Warum bloß? Fakt ist: Italien war 2015 so schwer angeschlagen, als läge ein Krieg hinter ihm. Eine zweifache Rezession hatte den Industrieausstoß um 17 Prozent verringert. Ein Sechstel der Produktionskapazitäten ging verloren. Die Unternehmensinvestitionen waren um ein Drittel gefallen; die privaten Pro-Kopf-Ausgaben um acht Prozent. Sieben Krisenjahre vernichteten eine Million Arbeitsplätze. Muss man nicht staunen, dass Italien daran nicht zerbrochen ist? Was wäre wohl in Deutschland passiert? In Berlin nahmen - bei Vollbeschäftigung und guter Konjunktur - gerade Rechtsextreme nahezu als Hundertschaft im Bundestag Platz.
Das Vorurteil:
Italien, das ewige Krisenland, ist wirtschaftlich rückständig
Die Wahrheit ist:
Viele Unternehmen sind erfolgreich und technologisch vorne
Italien und Europa:
Nach dem Brexit rückt das Land auf Platz drei der Nettozahler - obwohl es 2011 in den Abgrund der Staatspleite blickte
Außerdem: Seit drei Jahren wächst Italien wieder, dieses Jahr mit 1,6 Prozent sogar kräftiger als erwartet. Es hinkt jedoch, wie seit mehr als zwei Jahrzehnten, noch immer den anderen EU-Ländern hinterher. Schuld daran ist die fallende Produktivität. Dass in Italiens Wirtschaft etwas schiefläuft, ist seit langem offensichtlich. Ursache dieser Fehlentwicklungen sind strukturelle Schwächen wie die Dominanz familiengeführter Unternehmen, ihr winziges Format und ihr mangelndes Wachstumsstreben. Als die sprunghafte Entwicklung der Informationstechnologie, die Globalisierung und die Währungsunion schlagartig die Welt veränderten, war Italien schlecht für die neue internationale Arbeitsteilung gerüstet. So taumelte das Land 2008 bereits geschwächt in die weltweite Rezession.
Italien ist jedoch nicht Griechenland. Es ist trotz der Krise der zweitgrößte Industriegüterhersteller Europas. Diese Stärke verdankt das Land maßgeblich der Attraktivität seiner Produkte auf den internationalen Märkten. 2016 erzielten die Unternehmen einen Handelsbilanzüberschuss von mehr als 51 Milliarden Euro. Italien belegt damit in Europa hinter Deutschland und den Niederlanden den dritten Platz. In diesem Jahr legen die Ausfuhren um sieben Prozent zu. Made in Italy ist auf den Weltmärkten ein Qualitätsversprechen - wie, pardon, Made in Germany. 2017 wird Italien mit 450 Milliarden Euro sein bestes Exportergebnis aller Zeiten einfahren. In den akademischen Zirkeln löst das Verwunderung aus - man rätselt über die seltsame Wettbewerbsfähigkeit Italiens.
Deutsch-italienischen Ressentiments haben seit der Eurokrise Konjunktur
Die größten Exportschlager sind übrigens nicht die Lifestyle-Produkte Mode, Einrichtung oder Gastronomie. Italiens wichtigste Exportbranche ist ausgerechnet die Königsdisziplin der Industrie: der Maschinenbau.
Der Gemeinplatz vom Versagen bei der Modernisierung der Wirtschaft geht an der Realität vorbei. In der vierten industriellen Revolution verschwimmen die Grenzen zwischen der traditionellen und der digitalen Wirtschaft rasch. Angeschoben von Steueranreizen für private Investitionen in die digitale Fabrik holt Italien bei Innovationsinvestitionen rasch auf. Eine Untersuchung zeigt: 60 Prozent der mittleren Unternehmen sind, mit unterschiedlichem Tempo, bereits in der Industrie 4.0 angekommen. Die Zahl der Start-ups stieg in den vergangenen 18 Monaten um 35,5 Prozent auf mehr als 8 000. Verabschiedet sich hier etwa gerade eine Industrienation aus dem globalen Wettbewerb?
Die Erfahrungen sprechen dagegen, die Zahlen auch. Eine davon besagt: Italien verfügt über den zweitgrößten Stahlmarkt Europas. Allerdings leben die Italiener in einem tief gespaltenen Land. Da schaut die heruntergekommene Hauptstadt Rom dem Exodus der Unternehmen tatenlos zu. Gleichzeitig setzt das coole Mailand eine unglaubliche Energie und einen ungestümen Erneuerungsdrang an den Tag.