Süddeutsche Zeitung

Wirtschaft in Japan:Flucht aus dem Hinterland

Lesezeit: 5 min

Von Christoph Neidhart, Akita

In den Büros von "Hello Work" klicken sich drei junge Leute durch Stellenangebote, mehr als ein Dutzend andere Computerstationen bleiben unbenutzt. An diesem verschneiten Dienstag ist es ruhig bei "Hello Work", wie das japanische Arbeitsamt heißt. So ruhig, wie in letzter Zeit fast immer.

In der Stadt Akita ist das Amt im Atorion-Kulturpalast untergekommen, einem zwölfstöckigen Prunk-Bau mit Museen und Konzerthalle, erbaut in der Zeit, als Japan sich alles leisten konnte. Damals wollte der Staat den Menschen in der Provinz alles bieten, woran sich ihre Verwandten in den Metropolen erfreuen konnten. Als das Atorion 1987 eröffnet wurde, war Japan dabei, ein Wohlfahrtsstaat von fast skandinavischer Prägung zu werden.

Heute erinnert das Atorion eher an die vielen Kauf- und Bürohäuser in Japans Provinzstädten, die keine Mieter finden, die zahlen können, und die ihre Räume, um das Gebäude irgendwie zu beleben, deshalb Kindergärten, Spielgruppen, Yoga-Klassen, Schachklubs, Nonprofit- und Freiwilligen-Organisationen zur Verfügung stellen. Im Erdgeschoss unterhält das japanische Rote Kreuz seine lokale Ablage, gegenüber von Hello Work verkaufen Hausfrauen ihre selbstgestrickten Wollsachen.

Im Arbeitsamt hängen an Pinnwänden etwa 400 Stellenausschreibungen. Viele dieser Jobs werden unbesetzt bleiben; Japan gehen die Arbeitskräfte aus, vor allem in der Provinz.

Bergbau lohnt sich kaum mehr

Akita ist die Hauptstadt der gleichnamigen Präfektur im Norden der Hauptinsel Honshu. Einst eine wichtige Landwirtschafts- und Bergbau-Region - im Boden von Akita liegen große Reserven von Kupfer, Blei, Zink, Gold, Silber, Kohle und sogar etwas Öl, doch der Bergbau lohnt sich kaum mehr. Die Präfektur lebt heute zu zwei Dritteln von Zuschüssen und Transfers. Akita ist eine der ärmsten Präfekturen Japans geworden. Und diejenige, die sich am schnellsten entvölkert.

Zwischen 2005 und 2010 verlor Akita ein Prozent der Einwohner pro Jahr; kleine Landgemeinden und abgelegene Fischerdörfer schrumpfen rasant. Selbst in der Präfekturhauptstadt schwindet die Bevölkerung. Die häufigste Begründung, die man dafür hört: es gebe keine Arbeit.

Ein Blick auf die Stellwände von Hello Work zeigt: Das stimmt nicht. Wer genauer hinsieht, erkennt aber, warum die Jungen weg wollen. Arbeit gibt es schon, aber keine attraktive. Die Stundenlöhne der in Akita ausgeschriebenen Bau-, Fabrik- und Pflege-Jobs bewegen sich zwischen 690 und 900 Yen, etwa 4,70 bis 6,10 Euro - 20 Prozent weniger als der gesetzliche Mindestlohn, der in Tokio gilt. Der Unterschied wird mit den angeblich höheren Lebenshaltungskosten in der Großstadt begründet, doch das stimmt so nicht. Auf dem Land gibt es beispielsweise weniger Discounter, denn die Umsätze sind dort gering.

Unternehmen lehnen Aufträge ab oder gehen Konkurs

Nach der offiziellen Statistik beträgt die Arbeitslosigkeit in Japan noch immer etwa 3,5 Prozent, tatsächlich dürfte sie sogar etwas höher sein. Dennoch lassen sich viele Stellen nicht besetzen. Zahlreiche Unternehmen in der Provinz lassen eher Stellen offen, als die Löhne anzuheben. Baufirmen und Schiffswerften lehnen derzeit sogar Aufträge ab, weil ihnen die Leute fehlen. Und diese Leute "wachsen" nicht nach. Japan verliert derzeit jährlich 1,5 Millionen Leute im Alter zwischen 15 und 64 Jahren.

Letztes Jahr meldeten 227 Firmen mit der Begründung Konkurs an, sie fänden keine Leute. Unter ihnen viele kleine Restaurants.

Ausländer, die Tokio oder eine der andern Großstädte besuchen, wundern sich, wo denn hier die Krise sei. In die Provinz kommen nur wenige. Auch die in Japan ansässigen ausländischen Investmentbanken bleiben in Tokio, wo emsig gebaut und konsumiert wird. Und eine dünne Oberschicht fast jeden Luxus zur Schau trägt. Vor allem die Ausländer haben sich von Premier Shinzo Abes Roadshows für die japanische Wirtschaft überzeugen lassen, ihre Fonds trieben die Börse von Tokio in den vergangenen zwei Jahren in die Höhe. Die individuellen japanischen Anleger reduzierten derweil ihren Aktienbesitz.

Obwohl der Lebensstandard sogar in manchen Stadtteilen von Tokio und in den Vororten sichtbar tiefer ist als im Vorzeige-Zentrum, generiert der Großraum Tokio eine Wirtschaftsleistung, die pro Kopf fast 50 Prozent höher ist als in der Provinz, beispielsweise in Akita.

Ende der Großzügigkeit

In den Boom-Jahrzehnten bis 1991 glichen die Regierung und die Unternehmen die Unterschiede zwischen Stadt und Land aus. Es gab kaum Arm und Reich, fast alle Japaner zählten sich zum Mittelstand. Abes Liberaldemokratische Partei (LDP), eine verfilzte, heterogene Machtmaschine, die von 1955 bis 2009 mit einer kurzen Unterbrechung regierte, machte die sozialen Forderungen der damals starken sozialistischen Opposition bald zu ihren eigenen, um ihr Monopol zu wahren. So entstand ein japanischer Wohlfahrtsstaat.

Japan, Land der Gegensätze: Geschäftsleute in Tokio verdienen gut...

...in Arbeitsämtern werden dagegen oft nur schlecht bezahlte Jobs angeboten.

Regierungschef Shinzo Abe und seine liberaldemokratische Partei verspricht den Menschen mehr Wohlstand.

Ein Boom ist von der Hauptstadt Tokio noch nicht ausgegangen.

Zumal die großen Konzerne ihren Arbeitnehmern lebenslange Anstellungen und großzügige Sozialleistungen garantierten, und sie mit firmeneigener medizinischer Betreuung, Inhouse-Friseuren oder Ferienheimen umsorgten. Die Arbeitnehmer honorierten das mit bedingungsloser Loyalität. Damals lebten die Japaner in der Provinz ähnlich wie ihre Cousins in der Großstadt, oder sogar besser. Ihre Bildungs- und Berufs-Chancen waren vergleichbar, ihre Häuser größer und der Alltag gemächlicher.

Seit dem Platzen der japanischen Blase 1991 haben Nippons Unternehmen ihre einstige Großzügigkeit schrittweise zurückgefahren, die Loyalitätsansprüche dagegen nicht reduziert. Mit dem Argument, sie bräuchten mehr Flexibilität, um im globalisierten Wettbewerb zu bestehen, setzten sie neue Gesetze durch, die es ihnen erlaubten, mehr und mehr Leute nur in Zeitverträgen zu beschäftigen: zu schlechten Löhnen, oft fast ohne Sozialleistungen, ohne Weiterbildung und Aufstiegschancen. Mittlerweile haben 40 Prozent der arbeitenden Bevölkerung nur solche Verträge, die meisten zu Stundenlöhnen zwischen sechs und acht Euro. Vor allem Frauen und junge Leute sind betroffen.

Weniger Wohlfahrtsleistungen

Als die Wirtschaft ihre Wohlfahrtsleistungen abzubauen begann, hätte der Staat einspringen und den Menschen bieten müssen, was sie nicht oder nicht mehr von ihren Arbeitgebern erhielten, vor allem soziale Sicherheit. Doch Tokio war schon damals schwer verschuldet. Zudem dominiert seit dem Jahr 2001 ein nationalistischer, neoliberaler Flügel, die LDP. Seither baut die Regierung sogar ab, was der Staat den Japanern einst an Wohlfahrtsleistungen bot. Das geht vor allem zulasten der Provinz.

Bis in die Zwischenkriegszeit war Japan ein Schwellenland, eine aufstrebende Regionalmacht, die international wahrgenommen und an der Globalisierung der ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts teilhaben wollte. In den 1920er-Jahren wurde Nippon dann zum weltweit wichtigsten Produzenten von Maschinenseide, es baute zuerst eine Schwer- und dann eine Leichtindustrie auf.

Dabei stützte sich das Land auf eine dualistische Ökonomie: Wie heute in China waren die Metropolen Teil der Weltwirtschaft, das Hinterland dagegen arm und rückständig, dominiert von der Landwirtschaft, die primär eine Subsistenzwirtschaft war. Von den Exporten, für die viele Fabriken - Industrieinseln gleichsam - im Hinterland angesiedelt waren, profitierte die Provinz nicht. Drohende soziale Unruhen wurden von einem repressiven Regime brutal unterdrückt.

Abes Politik bringt dem Hinterland die düsteren Zeiten zurück

Premier Shinzo Abe träumt von einem Land, wie es Japan in den 1930er-Jahren war. Das hat er mehreren Publikationen gesagt. Allerdings hat er ein ganz anderes Bild von Japan. Er schwärmt von Reisbauerndörfern, in denen die Leute einander helfen und die kleinbürgerlichen Familien, wie er meint, noch intakt waren.

Wenn jenseits der Börse überhaupt jemand von Abenomics profitiert hat, dann sind es die großen Exportkonzerne. In Akita behauptete im Wahlkampf nicht einmal Abes LDP, Abenomics sei ein Erfolg. Im Gegenteil, Benzin und Dünger sind teurer geworden, zudem hat Abe die Mehrwertsteuer angehoben. Die Leute haben deutlich weniger Geld in der Tasche als vor Abenomics. Und die Bauern befürchten, der Premier werde dem Druck Washingtons nachgeben und die Schutzzölle auf Reisimporte aufgeben. Zugleich kürzt Tokio Zuschüsse und Renten.

Abes Politik bringt dem Hinterland die düsteren Seiten jener Zeit zurück, die Abe verklärt. Obwohl er das Gegenteil behauptet, koppelt der Premier die Provinz zusehends von den global integrierten Metropolen ab. Angefangen hat das lange vor ihm, aber er beschleunigt diesen Prozess. Auch die Vergabe der Olympischen Spiele 2020 nach Tokio und die daraus folgende wirtschaftliche Konzentration auf die Hauptstadt trägt dazu bei. Japan ist im Begriff, wieder zu einer dualistischen Ökonomie zu werden, wie es in den 1930er-Jahren eine war: mit globalisierten Metropolen und einem bedürftigen Hinterland. Mit einem großen Unterschied: Damals wuchsen in der Provinz viele junge Leute nach, heute bleiben dort fast nur Alte zurück.

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Quelle:
SZ vom 05.01.2015
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