Wirtschaft in Großbritannien:Abgeschaut beim Vorbild Deutschland

Wirtschaft in Großbritannien

Wirtschaft in Großbritannien: Ein Mitarbeiter inspiziert eine Turbine auf der Alstom-Energieanlage in Rugby, UK.

(Foto: Bloomberg)

Die Wirtschaft in Großbritannien wird von Banken beherrscht. Seit der Finanzkrise weiß das Land, wie gefährlich das ist. Die Regierung in London will deswegen die Industrie wieder stärken - und spickt bei der deutschen Industrie.

Von Björn Finke, London

Die Fotos zeigen Pipelines, die stellenweise unter Grünzeug verschwinden, so hoch sind Gräser und Unkraut gewachsen. Sie zeigen riesige Tanks, von Rost überzogen und von Gestrüpp umgeben. Die Bilder stammen aus der Raffinerie Grangemouth in Schottland, einem der größten Chemiekomplexe im Vereinigten Königreich. Für Jim Ratcliffe sind diese Aufnahmen ein Symbol dafür, was in der britischen Industrie schiefläuft. "Traurigerweise leiden Fabriken hier oft unter Vernachlässigung und zu geringen Investitionen", sagt der Milliardär. Ratcliffe ist Eigner und Chef des Chemieunternehmens Ineos, vor acht Jahren kaufte er dem Ölkonzern BP Grangemouth ab. Ratcliffes Fotos belegen, wie marode das Werk war.

Ineos übernahm auch in Deutschland Raffinerien, etwa in Köln. Diese Fabriken seien "traumhaft" in Schuss gewesen, sagt der Engländer. Das liege unter anderem daran, dass die Beschäftigten besser ausgebildet seien als in Großbritannien und mehr auf die Anlagen achtgäben. Der Manager drängt deswegen die Regierung in London dazu, das Ausbildungssystem für Facharbeiter zu verbessern - und generell mehr für die Industrie zu tun.

Die Industrie: Sie hat auf der Insel einen jahrzehntelangen Niedergang hinter sich.

Die Wirtschaft in Großbritannien wird von Banken und Versicherungen angetrieben sowie von der Kauffreude der Verbraucher. Damit sind die Briten prima gefahren - bis zur Finanzkrise 2008. Das Desaster bei den Banken führte der Regierung vor Augen, dass sich das Land zu abhängig von der Geldbranche gemacht hat. Der konservative Premier David Cameron will der Wirtschaft deshalb eine neue Balance verpassen. Er möchte die Industrie stärken, ganz nach dem Geschmack des Unternehmers Ratcliffe.

London will mehr Mittelstand und mehr Exporte. Ganz nach dem deutschen Erfolgsmodell

Und dabei dient ausgerechnet das Reich der Teutonen als Vorbild. "Wir versuchen, gute Deutsche zu sein", sagt Wirtschaftsminister Vince Cable von den Liberaldemokraten. Mehr Facharbeiter, mehr Ingenieure, mehr mittelständische Industrie, mehr Exporte - kurzum, mehr vom deutschen Erfolgsmodell: Das ist es, was die Regierungskoalition sehen will.

Doch der Weg dahin ist weit. Inzwischen steht das verarbeitende Gewerbe mit seinen 2,5 Millionen Beschäftigten nur noch für elf Prozent der Wirtschaftsleistung in Großbritannien, die Hälfte des deutschen Wertes. In den Siebzigerjahren waren es mehr als 25 Prozent. Und obwohl die Wirtschaft im vergangenen Jahr nach der langen Flaute wieder kräftig gewachsen ist, sanken die Investitionen der Unternehmen weiter - das passt zu Ratcliffes Klage über die vernachlässigten Fabriken.

Allerdings gibt es auch Erfolgsgeschichten in der britischen Industrie: etwa den Chipentwickler ARM aus Cambridge, dessen Halbleiter sich in nahezu allen Handys finden. Oder die Rüstungsfirma BAE Systems. Oder die Pharmakonzerne Glaxo-Smith-Kline und Astra-Zeneca - dieses Unternehmen würde sich der US-Rivale Pfizer gern einverleiben.

Einen regelrechten Boom erlebt die Autobranche; die Briten kaufen wieder mehr Neuwagen, im vorigen Jahr stieg die Produktion auf den höchsten Wert seit 2007. Einziger Wermutstropfen für Patrioten: Dieser Industriezweig ist fest in ausländischer Hand. Die größte Fabrik betreibt Nissan, und britische Traditionsmarken wurden von Rivalen aus der Fremde übernommen: Mini und Rolls-Royce von BMW, Bentley von Volkswagen. Jaguar und Land Rover hat Tata aus Indien geschluckt. Und den Hersteller der traditionsreichen Londoner Taxen erwarb Geely aus China.

Die meisten Autos, die im Königreich vom Band laufen, werden ins Ausland verkauft. Aber jenseits der Fahrzeugbranche und einzelner anderer Erfolgsgeschichten dümpelt die Industrie weiter vor sich hin. Daher kann Großbritannien mit deutschen Exportrekorden nicht mithalten. Im Gegenteil: In Summe führt das Land viel mehr ein als aus.

Facharbeitermangel trotz hoher Jugendarbeitslosigkeit

Ein Grund für den langen, steten Niedergang der Industrie ist schlicht, dass deren Probleme die wechselnden Regierungen kalt ließen; diese setzten auf die boomende Geldbranche. "Die Politiker hatten das Interesse an der Industrie verloren, sich mittags lieber mit Bankern getroffen", sagt Milliardär Ratcliffe. Premierministerin Margaret Thatcher entfesselte in den Achtzigerjahren die Finanzmärkte; gleichzeitig versuchte sie, die Macht der Gewerkschaften zu brechen, die an traditionellen Branchen wie der Kohleförderung festhalten wollten. Deswegen ging der Strukturwandel in Großbritannien schneller und brutaler als anderswo in Europa vonstatten.

London, das Herz von Europas Finanzsektor, zieht viel Kapital aus dem Ausland an - einer der Faktoren, die den Wert des Pfundes hochtrieben. Die Banken kamen damit klar, aber aus Sicht der Industriefirmen war die Währung lange überbewertet, das starke Pfund machte Maschinen "made in Britain" im Ausland teurer. Viele Betriebe konnten nicht mehr mithalten.

Schulabgänger waren ähnlich fasziniert von den Banken wie die Politiker. Sie strömten an die Universitäten, verschmähten Ausbildungen in Industrieunternehmen. Das Image dieses Karrierewegs verschlechterte sich rapide. Heute klagen die Konzerne über Facharbeitermangel; sie finden keinen Nachwuchs trotz hoher Jugendarbeitslosigkeit. Denn den Jobsuchern fehlen nötige Kenntnisse. Die Regierung kündigte deshalb an, das System der Berufsausbildungen zu reformieren und attraktiver zu machen: ein wichtiger Baustein der neuen industriefreundlichen Politik. Ähnlich wie in Deutschland sollen Unternehmen einer Branche selbst Standards entwickeln, was ein Lehrling in einem bestimmten Beruf beigebracht bekommt.

Auch bei anderen Initiativen ließ sich London von der Bundesrepublik inspirieren. So eröffnete im Oktober 2013 die British Business Bank, eine Staatsbank, die Mittelständler mit günstigen Krediten versorgt. Vorbild ist die Frankfurter KfW. Und schon vor zwei Jahren weihte Wirtschaftsminister Cable die Zentrale von Fraunhofer UK ein. Der Ableger der deutschen Fraunhofer-Gesellschaft soll nach bewährter Manier Industrie und Hochschulforschung besser verzahnen.

Die Briten wollen eben gute Deutsche sein.

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