Wirecard-Untersuchungsausschuss:"Gefahr eines Angriffs durch Dritte"

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Das Wirecard-Gelände in München-Aschheim. (Foto: Alessandra Schellnegger)

Die Staatsanwaltschaft fürchtet um die Sicherheit der inhaftierten Wirecard-Zeugen und will sie nur per Video befragen lassen. Doch da machen die Abgeordneten im Untersuchungsausschuss nicht mit.

Von Cerstin Gammelin, Berlin, Klaus Ott und Jörg Schmitt, Berlin/Hamburg

Es gibt Untersuchungshäftlinge, die fühlen sich ganz wohl dort, wo sie gerade sind, auch hinter Gittern. Vor allem dann, wenn sie als Kronzeuge ausgepackt haben. Sie können zwar nicht raus, aber es kann auch keiner rein zu ihnen. Sie sind verhältnismäßig sicher hinter Gittern. Sicher vor Mittätern, die sie verzinkt haben - aber auch vor den Rachegelüsten ihrer Opfer.

Einer, der gerade so denken könnte, ist der Kronzeuge der Münchner Staatsanwaltschaft im Fall des mittlerweile insolventen Dax-Konzerns Wirecard. Er hat der Ermittlern jede Menge Erkenntnisse über den Milliarden-Betrug von Aschheim geliefert. Zwei weitere Top-Manager sitzen in Untersuchungshaft, darunter Ex-Wirecard-Chef Markus Braun, der alle Vorwürfe bestreitet.

Die Staatsanwaltschaft ist offenbar um die körperliche Unversehrtheit ihres Kronzeugen besorgt. Sie drängt deshalb darauf, dass ihr wichtigster Mann am kommenden Donnerstag nicht, wie gefordert, persönlich als Zeuge vor dem Wirecard-Untersuchungsausschuss aussagt.

Nach Informationen von Süddeutscher Zeitung, NDR und WDR argumentieren die Ermittler in einer E-Mail vom 11. November unter anderem, die "Gefahr eines Angriffs" durch "Dritte" sei nicht auszuschließen. Sie bitten darum, den Kronzeugen per Video zu vernehmen, ebenso wie Ex-Konzernchef Braun und einen weiteren Inhaftierten Top-Manager. Und sie sorgen sich, dass ihrem Kronzeugen auf dem Weg in die Hauptstadt etwas zustoßen könnte. In besagter E-Mail verweisen sie dabei auf das Umfeld von Jan Marsalek, Wirecards geflohenem Ex-Vorstand. Dieser solle über "sehr gute Geheimdienstkontakte in mehrere Länder, insbesondere nach Russland" verfügen. Daher solle die "Möglichkeit eines Eingreifens von dritter Seite nicht unterschätzt werden".

Die Staatsanwaltschaft traut Jan Marsalek offenbar alles zu

Die Staatsanwaltschaft traut Marsalek, der als Schlüsselfigur des Bilanzskandals gilt, offenbar alles zu. Er könnte nicht nur Hunderte Millionen Euro aus dem Konzern abgezweigt haben und wird von Interpol gesucht. Er hat sich auch mit Ex-Militärs und Ex-Geheimdienstlern umgeben und steht im Verdacht, mit österreichischen Diensten gearbeitet zu haben.

Der Kronzeuge, ehedem Wirecard-Statthalter in Dubai und lange einer von Marsaleks engsten Mitarbeitern, hat seinen früheren Chef schwer belastet: Der habe mit Kompagnons unter anderem 200 Millionen Daten bei Wirecard frisiert, um die Umsätze aufzublähen und Wirtschaftsprüfer zu täuschen. Marsalek habe Kontakte zum philippinischen Geheimdienst genutzt, um auf dem Flughafen von Manila Schreiben der Wirtschaftsprüfer abzufangen. Hätte die Post ihren Empfänger erreicht, wäre das ganze Wirecard-Lügengebäude vermutlich eher eingestürzt.

Die Münchner Staatsanwälte drängen aus weiteren Gründen auf eine Video-Einvernahme der in bayerischen Gefängnissen einsitzenden Wirecard-Manager. Die Ermittler befürchten, das Trio könne sich über den Weg laufen und "untereinander Kontakt aufnehmen und möglicherweise Aussagen absprechen". Oder versuchen, aufeinander Einfluss zu nehmen. Sie sorgen sich auch hier um ihren Kronzeugen. Dessen Bereitschaft, weiter mit den Behörden zusammenzuarbeiten, könnte "durch Kontakt mit beispielsweise einem ehemaligen Vorgesetzten für die Zukunft erheblich leiden". Die Staatsanwaltschaft warnt daher: "Unsere Ermittlungen sind insoweit massiv gefährdet."

Die Fraktionen sind sich einig: Alle sollen kommen

Und dann ist da noch die Corona-Pandemie. Drei Beschuldigte zusammen mit vielen Polizeibeamten von Bayern nach Berlin zu bringen und dort bewachen zu lassen, dazu zwei Übernachtungen in Gefängnissen in der Hauptstadt, das sei "sehr problematisch", schreibt die Staatsanwaltschaft. Es bestehe ein "erhöhtes Ansteckungsrisiko". Nach der Rückkehr müssten sich alle möglicherweise in Quarantäne begeben. Die Staatsanwaltschaft hat vorsorglich bei den Haftanstalten angefragt - alle drei bieten Videokonferenzen an: "Eine Vernehmung in dieser Form dürfte auch ohne weiteres möglich sein."

Der Bundestag will auf eine persönliche Befragung hingegen nicht verzichten. Im U-Ausschuss hat man die Bedenken sorgfältig geprüft. Und in überraschender Einigkeit befunden, dass zwar "eine Mords-Logistik" nötig sei, die aber bewerkstelligt werden könne. Alle sollen kommen. "Eine persönliche Vernehmung ist deutlich effizienter als eine Schalte", sagte Jens Zimmermann (SPD). So sieht es auch die Union. "Es kann nicht sein, dass wir bei unseren wichtigsten Wirecard-Zeugen auf den persönlichen Eindruck verzichten", sagt Matthias Hauer (CDU). Auch die Obleute von FDP, Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen halten daran fest, "dass eine Vernehmung bei Anwesenheit der Zeugen im Sitzungssaal erforderlich ist".

Die Staatsanwaltschaft sorgt sich auch um ein öffentliches Tribunal. Viele Aktionäre haben Geld bei Wirecard verloren. Sie könnten "möglicherweise nicht davor zurückscheuen, bei einem öffentlichen Auftritt den direkten Kontakt insbesondere mit Dr. Braun zu suchen". Dazu müssten sie in den Bundestag gelangen, vorbei an allen Sperren, an der Sicherheit. Das ist schwer vorstellbar. Oder?

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