Süddeutsche Zeitung

Wirecard-Skandal:Frühe Warnung vor Brauns Machtfülle

Im Aufsichtsrat von Wirecard gab es bereits vor mehr als drei Jahren massive Kritik an Konzernchef Markus Braun und dessen Machtfülle. Die Kritik blieb damals aber ohne Folgen - ebenso wie die Warnung vor enormen Risiken.

Von Cerstin Gammelin, Klaus Ott, Jörg Schmitt und Meike Schreiber

Das vierseitige Schreiben, das Wirecard-Aufsichtsrätin Tina Kleingarn am 29. September 2017 ihren Kollegen im Kontrollgremium schickte, liest sich wie eine düstere Prophezeiung, die schließlich in Erfüllung ging. Es mangele an "geordneten und angemessenen Kontroll- und Steuerungsstrukturen". Der Vorstand handele zu autonom und betrachte die "Unternehmensüberwachung als eine Last". Kleingarn, Diplom-Kauffrau und jahrelang Bank-Managerin (Barclays, Goldman Sachs) warnte eindringlich: "Früher oder später werden sich diese Mängel rächen und eingegangene Risiken sich womöglich materialisieren."

Die Finanzexpertin erklärte mit diesem internen Schreiben nach nicht einmal zwei Jahren ihren Austritt aus Aufsichtsrat. "Nach wiederholten erfolglosen Versuchen, diesen Zustand zu ändern, möchte ich den eingeschlagenen Weg nicht weitergehen, da er nicht im Einklang mit meiner Auffassung der Aufgaben eines Aufsichtsrats steht." Das Schreiben wurde am Donnerstagabend im Wirecard-Untersuchungsausschuss des Bundestags bekannt, als dieser die ehemalige Wirecard-Kontrolleurin als Zeugin vernahm.

Kleingarns frühe Warnung belastet den langjährigen Konzernchef Markus Braun schwer. Braun sitzt in Untersuchungshaft, er war am Donnerstag im Untersuchungsausschuss ebenfalls als Zeuge geladen, sagte aber nur wenig. In ihrem Rücktrittsschreiben kritisierte Kleingarn, Braun handele wie ein alleiniger Eigentümer, "der er aber nicht ist". Der Konzernchef sei nicht bereit, die Unternehmensführung und die Art und Weise, wie der Vorstand mit dem Aufsichtsrat zusammenarbeite, einem "modernen Corporate Governance-Verständnis anzupassen". Gemeint war damit, dass ein Konzern so geführt werden solle, dass der Aufsichtsrat seine Pflichten erfüllen könne und Risiken frühzeitig erkannt und beseitigt werden würde.

Nach Darstellung von Kleingarn war Brauns Vorstandsvertrag damals handstreichartig verlängert worden. Die Vertragsverlängerung habe "nichts mit einem geordneten Prozess" zu tun gehabt. Mit nicht haltbaren Begründungen sei der Vertrag innerhalb von 24 Stunden verlängert worden. Der Aufsichtsrat dürfe sich bei der Bestellung des Vorstandschefs das "Heft des Handels nicht entziehen lassen; das ist aber leider passiert."

Das damalige Rücktrittsschreiben enthält weitere, massive Kritik am damaligen Vorstand. Entscheidungsvorlagen würden häufig sehr spät vorgelegt, manchmal sogar als Tischvorlage. Dem Aufsichtsrat seien sogar Kreditbürgschaften zur Genehmigung vorgelegt worden, bei denen die betreffenden Darlehen bereits Wochen vorher ausbezahlt worden seien, rügte Kleingarn. Das bedeutet, der Vorstand soll unter Konzernchef Braun erst Fakten geschaffen und dann nachträglich den Aufsichtsrat informiert und um Genehmigung gebeten haben. Das war im September 2017. Im Juni 2020 ging Wirecard pleite.

Was aber wäre passiert, hätte Kleingarn ihre Kritik nicht nur intern geäußert? Hätte sie die Geldgeber von Wirecard warnen können oder dies sogar müssen? Dem entgegen steht die strenge Verschwiegenheitspflicht, der Aufsichtsräte nach deutschem Recht unterliegen. Der Auskunftsfreude sind daher Grenzen gesetzt. Andererseits: Offiziell hatte Kleingarn ihren Rücktritt mit "familiären Gründen" erklärt, nur um kurz darauf in einen anderen Aufsichtsrat einzuziehen. Auch die nachfolgenden Mitglieder des Gremiums erfuhren dem Vernehmen nach nichts von den wahren Gründe des Rücktritts. Laut Peter Mattil, Fachanwalt für Bank- und Kapitalmarktrecht hätte sich die Aufsichtsrätin zumindest an die Finanzaufsicht Bafin wenden können. "Auch ein Aufsichtsrat kann sich mit seinen Bedenken an die Bafin wenden, er oder sie ist dann nach dem Finanzdienstleistungsaufsichtsgesetz als Whistleblower geschützt", sagte Mattil.

Ein weiterer Aktienrechtsexperte, der indes anonym bleiben wollte, sagte: "Es ist in so einer Situation empfehlenswert, wenn zumindest der Aufsichtsratschef die neuen Mitglieder über die Geschehnisse in der jüngeren Vergangenheit informiert, damit diese die Chance haben, damit umzugehen". Genau das ist aber wohl nicht passiert. Nach SZ-Informationen soll der damalige Aufsichtsratschef Wulf Matthias die nachfolgenden Aufsichtsräte nicht über das Schreiben informiert haben. Eine Anfrage dazu ließ Matthias unbeantwortet.

Nach Ansicht des Grünen-Abgeordneten Danyal Bayaz zeigen die Aussagen zudem, dass Aufsichtsräte dringen professioneller arbeiten sollten. "Für Konzerne im Dax und MDax sollte ein Prüfungsausschuss Voraussetzung für die Listung eines Unternehmens sein", sagte Bayaz.

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