Martin Winterkorns letzter großer Auftritt hat inzwischen beinahe schon den Status eines zeitgeschichtlichen Dokuments. Am 19. Januar 2017 sagte der langjährige Vorstandschef von Volkswagen im Bundestag aus, als Zeuge in einem Untersuchungsausschuss zur Abgasaffäre. Jener Affäre, die den VW-Konzern viel Vertrauen gekostet hat. Und mindestens 28 Milliarden Euro, wahrscheinlich schon mehr, vor allem in den USA. Winterkorn hätte, da ihm ein Ermittlungsverfahren drohte, die Aussage verweigern können. Er hätte den Abgeordneten, die ihn befragen wollten, absagen können. Doch der frühere Konzernchef, ehedem einflussreichster Automanager der Republik mit direktem Zugang zu Kanzlerin Angela Merkel und anderen Spitzen des Landes, wollte sich unbedingt erklären.
Winterkorn beteuerte, er habe von den Abgasmanipulationen in seinem Unternehmen bis zuletzt nichts gewusst. Bis zum 18. September 2015, an dem die US-Umweltbehörde EPA den Betrug enthüllt hatte. Wenige Tage später musste Wiko, wie er intern genannt wird, bei VW gehen. Im Bundestag gab er dann den Unschuldigen, der im eigenen Unternehmen quasi selbst betrogen worden sei. "Ich verstehe nicht, dass ich nicht früher informiert wurde. Vielleicht habe ich Signale übersehen." Welche Signale? Dazu mochte er nichts sagen.
Der Konzernchef als Opfer, der von seinen Leuten hintergangen worden sei? Das sieht die Braunschweiger Staatsanwaltschaft, die für das vom benachbarten Wolfsburg ansässige Unternehmen zuständig ist, ganz anders.
Die Strafverfolger haben jetzt, nach gut dreieinhalb Jahren Ermittlungen, Anklage gegen Winterkorn und vier weitere meist frühere VW-Leute erhoben. Es liege ein besonders schwerer Fall von Betrug vor, lautet der Hauptvorwurf. Tatzeitraum, allerdings nicht bei Winterkorn: von November 2006 bis September 2015. Träfe das zu, dann hätte Volkswagen zahlreiche Kunden nicht nur in den USA, wo der Konzern Verstöße längst zugegeben hat, fast ein Jahrzehnt lang betrogen. VW streitet ab, auch in Europa manipuliert zu haben.
Winterkorn soll das entscheidende Papier am 25. Mai 2014 gesehen haben
Und Winterkorn? Der soll laut Anklage immerhin seit dem 25. Mai 2014 gewusst haben, dass Diesel-Fahrzeuge von Volkswagen in Europa und in den USA manipuliert gewesen seien. Mit einem sogenannten "Defeat Device". Einer Software, die dafür sorgte, dass die Abgasreinigung bei den offiziellen Messungen der Behörden auf einem Prüfstand, also im Labor, optimal funktionierte, aber auf der Straße weitgehend ausgeschaltet wurde. Der 25. Mai 2014 war ein Sonntag, aber Winterkorn arbeitete bekanntlich auch am Wochenende. Von seinem Büro in Wolfsburg bekam er dicke Koffer mit nach Hause, gefüllt mit Akten, zum Durcharbeiten. Wikos Wochenendpost, so hieß das bei Volkswagen.
Damals hatte sich in dieser Post auch ein Vermerk gefunden, mit Hinweisen auf "dramatisch erhöhte" Abgaswerte in den USA, für die man den dortigen Behörden keine fundierte Erklärung liefern könne. Es sei zu vermuten, dass die Behörden nun untersuchten, ob VW ein "sogenanntes Defeat Device" installiert habe. Diese Software zur Abschaltung der Abgasreinigung erwies sich später als Schlüssel der Abgasaffäre. Dieses Dokument in der Wochenendpost, das von einem Vertrauten Winterkorns stammte, will der damalige Konzernchef aber gar nicht studiert haben. Er soll nur ein weniger brisantes Vorblatt zu diesem Papier zur Kenntnis genommen und "wohl auch (an)gelesen" haben. Diesem Vorblatt, in dem das durchaus brisante Papier als Anlage erwähnt worden war, habe Wiko aber keine größere Bedeutung zugemessen. So hat es Volkswagen in einem der vielen Gerichtsverfahren dargestellt, in denen sich Aktionäre und Kunden mit dem Konzern um Schadenersatz streiten.
Die Staatsanwaltschaft in Braunschweig sieht das anders, und das macht die Anklage nicht nur für Winterkorn, sondern auch für Volkswagen so gefährlich. Der damalige Vorstandschef soll es fast 16 Monate lang unterlassen haben, den Behörden in Europa und den USA "rechtswidrige Manipulationen an Diesel-Motoren" offenzulegen und bei VW den weiteren Verkauf von Fahrzeugen mit "Defeat Device" zu untersagen. 16 Monate, das ist eine lange Zeit. Würde sich die Staatsanwaltschaft mit dieser Sichtweise in einem möglichen Prozess gegen Winterkorn durchsetzen, könnte das für beide teuer werden. Für den langjährigen Chef und für den Konzern.
Der Aufsichtsratschef von VW könnte in so einem Fall gar nicht mehr anders, als von Winterkorn Schadenersatz zu verlangen. Und ihn notfalls zu verklagen. Das brächte natürlich nicht die vielen Milliarden Euro zurück, die VW die Affäre bislang gekostet hat. Aber es wäre ein Signal. Wobei offen bliebe, was bei Winterkorn noch alles zu holen wäre. Er hat als Vorstandschef bis zu 17 Millionen Euro im Jahr an Gehalt und Boni kassiert. Als die Abgasaffäre schon eine Zeitlang lief, hat Winterkorn Millionenbeträge in die Schweiz geschafft, auf ein Depot bei einer Bank. Es handele sich wahrscheinlich um ein Depot der Ehefrau, notierten die Ermittler später. Die Ermittler vermuteten, der Ex-Konzernchef könnte einen "Notgroschen" für den Fall angelegt haben, dass er in der Affäre noch persönlich belangt werde. Der Clou an der Sache, aus Sicht Winterkorns: Nach allem, was bislang bekannt ist, wäre das völlig legal gewesen. Im Wege eines komplizierten Steuersparmodells unter Eheleuten, das "Güterstandsschaukel" genannt wird.
Bei Volkswagen sieht das etwas anders aus. Der Konzern verfügt über keine "Güterstandsschaukel" dieser Art, sieht sich aber anders als Winterkorn schon jetzt horrenden Schadenersatzforderungen ausgesetzt. Hunderttausende Kunden wollen per Musterklage Geld haben für Dieselfahrzeuge, die bei den Abgaswerten nicht gehalten haben, was VW einst versprochen hatte. Und Tausende Aktionäre verlangen in einem Musterverfahren beim Oberlandesgericht Braunschweig rund neun Milliarden Euro für den Kurssturz ihrer Papiere nach Enthüllung der Manipulationen im September 2015. Die Anleger behaupten, der Vorstand habe schon früher von gefälschten Abgasmessungen gewusst und hätte dies an der Börse mitteilen müssen. Das nicht getan zu haben, sei ein Verstoß gegen die Pflichten einer Aktiengesellschaft.
"Güterstandsschaukel" hat laut Winterkorn nichts mit Vorwürfen gegen ihn zu tun
Volkswagen streitet das alles vehement ab, doch nun könnten Autokunden wie Aktionäre indirekt Hilfe von der Staatsanwaltschaft in Braunschweig bekommen. Die will Winterkorn zusammen mit einem weiteren ehemaligen Top-Manager und drei Motorentechnikern auf die Anklagebank bringen. Zwei dieser Techniker haben umfassend ausgepackt, einer halbwegs. Zweieinhalb Kronzeugen also. Das mögliche Kalkül der Ermittler: Wenn die Motorentechniker auch vor Gericht auspacken und dort ebenfalls Winterkorn und den Vorstand belasten, dann wäre das hilfreich bei dem Versuch, ein Betrugsurteil gegen den ehemaligen Vorstandschef zu erwirken. Winterkorns Anwalt Felix Dörr lässt aber bereits anklingen, dass er und sein Mandant gar nicht daran denken, in einem möglichen Prozess klein beizugeben. Dörr hat bereits die ein oder andere heftige Auseinandersetzung mit der Staatsanwaltschaft hinter sich.
Einmal, ganz zu Beginn der Affäre, hatten die Strafverfolger irrtümlich gemeldet, gegen Winterkorn werde bereits ermittelt. Das war dann aber erst deutlich später der Fall. Und im vergangenen Jahr legte sich Dörr mit der Staatsanwaltschaft an, weil Details über die "Güterstandsschaukel" in die Akten und so in die Öffentlichkeit gelangt waren, obwohl das aus Sicht des Winterkorn-Anwalts nichts mit der Abgasaffäre zu tun hatte.
Der Ex-Konzernchef und die Staatsanwälte würden sich, so sieht es aus, in einem Prozess nichts schenken. Sondern hart um jedes Detail und jede Deutung kämpfen. Nur in einem Punkt kommen die Ermittler Winterkorn entgegen, um einen Tag. Sie gehen davon aus, dass der Konzernchef seine brisante Wochenendpost damals erst am Sonntag gelesen habe, dem 25. Mai 2014. Und nicht schon am Samstag. Da hatte Winterkorn nämlich Geburtstag.