Süddeutsche Zeitung

Dieselaffäre:Winterkorn will Prozess verhindern

  • Es könnte noch ziemlich lange dauern, bis der frühere VW-Chef Martin Winterkorn auf die Anklagebank kommt - wenn überhaupt.
  • Nun kommt es darauf an, was das Landgericht Braunschweig zu Einwänden der Verteidiger gegen die im Frühjahr erhobene Anklage sagt.

Von Klaus Ott

Fast vier Jahre ist es nun schon her, dass Martin Winterkorn wegen der Abgasaffäre als Vorstandschef von Volkswagen zurücktreten musste. Eine Anklage wegen Betrugsverdachts gegen den früheren VW-Chef und weitere Angeschuldigte liegt zwar inzwischen vor, doch mit einem Prozess wird es in diesem Jahr nichts mehr. Und vielleicht auch nicht im nächsten Jahr.

Mehrere Verteidiger der insgesamt fünf Angeschuldigten wollen nach Recherchen von Süddeutscher Zeitung , NDR und WDR einen Prozess verhindern, zumindest einen schnellen Prozess. So lautet jedenfalls die Taktik. Bis Winterkorn auf die Anklagebank käme, wenn überhaupt, könnte es also noch länger dauern. Ziemlich lange sogar. Je nachdem, was das Landgericht Braunschweig zu den Einwänden der Verteidiger gegen die im Frühjahr erhobene Anklage sagt.

Die Staatsanwaltschaft Braunschweig lastet Winterkorn und seinen Mitangeschuldigten an, dass schmutzige Diesel-Fahrzeuge wahrheitswidrig als schadstoffarm und umweltfreundlich beworben worden seien. Die Abgasreinigung sei manipuliert gewesen, das sei bewusst verschwiegen worden. Es lägen Betrug und weitere Delikte vor.

Nun kontern die Anwälte der Angeschuldigten mit langen Schriftsätzen an das Landgericht Braunschweig, das entscheiden muss, ob es zu einem Prozess kommt. Nach Angaben aus Kreisen von Verfahrensbeteiligten werfen mehrere Verteidiger der Staatsanwaltschaft sinngemäß vor, schlampig ermittelt zu haben. Und einseitig. Die Strafverfolger hätten nicht nach Entlastendem gesucht, obwohl das in Paragraf 160 der Strafprozessordnung so vorgeschrieben ist. Dort heißt es: "Die Staatsanwaltschaft hat nicht nur die zur Belastung, sondern auch die zur Entlastung dienenden Umstände zu ermitteln ...". Das sei nicht geschehen.

Zeitgewinn - und vielleicht noch mehr

Weitere Kritikpunkte von Verteidigern lauten, die Polizei inklusive Landeskriminalamt Niedersachsen habe den Sachverhalt vorsichtiger und differenzierter bewertet und eingeordnet als die Staatsanwälte. Zeugenaussagen seien selektiv ausgewertet worden. Außerdem seien betroffene Dieselautos in Europa mit einem Software-Update in Ordnung gebracht worden. Die Staatsanwaltschaft habe nicht berücksichtigt, dass das Kraftfahrtbundesamt die Zulassung dieser Fahrzeuge nicht widerrufen habe. Das sind nur einige der Vorwürfe gegen die Ermittler.

Normalerweise würde die vehemente Kritik von Verteidigerseite auf das Ansinnen hinauslaufen, das Landgericht Braunschweig möge die Anklage zurückweisen. Dann könnte die Staatsanwaltschaft allerdings das Oberlandesgericht (OLG) Braunschweig anrufen. Und dort hätten die Ermittler erfahrungsgemäß gute Chancen. Das OLG könnte das Landgericht überstimmen und einen Prozess ansetzen.

So ist das in prominenten Wirtschaftsfällen wiederholt geschehen: bei Bankenverfahren oder bei dem früheren Porsche-Chef Wendelin Wiedeking (der schließlich freigesprochen wurde). Dort hatten Landgerichte die Anklage zurückgewiesen, aber die zuständigen Oberlandesgerichte entschieden anders. Zuletzt war das in Frankfurt in der Affäre um die Weltmeisterschaft 2006 bei der Anklage gegen frühere Funktionäre des Deutschen Fußball-Bundes (DFB) und des Weltverbandes Fifa der Fall, darunter die ehemaligen DFB-Präsidenten Theo Zwanziger und Wolfgang Niersbach. Die Ex-Funktionäre, die alle Vorwürfe zurückweisen, kommen jetzt doch wegen mutmaßlicher Steuerdelikte vor Gericht.

Mit der Zurückweisung einer Anklage ist oft also nicht viel gewonnen. Anders sieht es aus, wenn ein Gericht die Anklage zurückgibt und weitere Ermittlungen verlangt. Dagegen kann eine Staatsanwaltschaft nicht beim OLG vorgehen, sondern muss vielmehr weiter ermitteln. Und das kann dauern; je nachdem, was alles noch zu ermitteln ist. Damit wäre für Winterkorn und seine Mitangeschuldigten auf alle Fälle Zeit gewonnen, und vielleicht noch mehr.

Vorwürfe gegen alle

Vor ihrem geplanten Gespräch mit Volkswagen-Chef Herbert Diess hat die Umweltaktivistin Tina Velo die Autoindustrie als "hochgradig kriminell" bezeichnet. Sie bilde zusammen mit der Politik ein "mafiös gestricktes Konglomerat", erklärte die Vertreterin des Aktionsbündnisses "Sand im Getriebe" am Montag in Frankfurt. Im Gespräch mit Diess an diesem Montagabend wolle sie verhindern, dass sich VW ein falsches grünes Image zulegen könne, sagte die unter Pseudonym auftretende Frau. Der Konzern habe Kunden und Öffentlichkeit jahrelang belogen und wolle weiterhin eine hohe Anzahl "klimaschädlicher Stadtpanzer" verkaufen.

Das Aktionsbündnis "Sand im Getriebe" will am ersten Publikumssonntag, dem 15. September, die Internationale Automobilausstellung (IAA) in Frankfurt blockieren. Man rechne bei den Aktionen des zivilen Ungehorsams mit mehreren hundert Teilnehmern. Dem "Aktionskonsens" zufolge soll es keine Gewalt gegen Personen und auch keine Beschädigungen von Infrastruktur geben, sagte ein Sprecher der teilnehmenden Organisation Attac. dpa

Je länger ein Verfahren dauert und je später ein prominenter (Ex-)Manager auf die Anklagebank kommt, desto größer der Bonus bei einer Verurteilung. Das Gericht müsste berücksichtigen, dass der Manager jahrelang öffentlich mit schweren Vorwürfen leben musste. Das könnte sogar den Unterschied zwischen einem Gefängnisurteil und einer Freiheitsstrafe auf Bewährung ausmachen.

Kritik an der Kritik der Verteidiger

Winterkorn und sein Anwalt Felix Dörr äußern sich zu alledem nicht, wegen des noch laufenden Verfahrens. Der Braunschweiger Oberstaatsanwalt Klaus Ziehe, der sich um die Pressearbeit seiner Behörde kümmert, weist die Kritik der Anwälte zurück. Es sei "regelmäßig zu beobachten, dass sich die Begeisterung von Verteidigern bei Anklagen gegen ihre Mandanten sehr in Grenzen hält - so offenbar auch hier." Da schwingt Ironie mit, aber auch in der Sache selbst lässt Ziehe die Kritik aus Verteidigerkreisen nicht gelten. "Die Staatsanwaltschaft Braunschweig ist ihrer gesetzlichen Aufgabe umfassender und bestmöglicher Aufklärung und Bewertung des Sachverhalts nachgekommen."

Nun muss das Landgericht entscheiden, was von den Einwänden der Verteidiger zu halten ist. In deren Reihen ist der Eindruck entstanden, die Staatsanwaltschaft Braunschweig habe mit ihrer Anklage gegen Winterkorn & Co. den Ermittlerkollegen in München zuvorkommen wollen. Deshalb habe alles schnell gehen müssen. Die Staatsanwaltschaft München II hat Ende Juli den früheren Vorstandschef der VW-Tochter Audi, Rupert Stadler, und weitere Angeschuldigte ebenfalls wegen Betrugsverdachts angeklagt. Stadler weist ebenso wie Winterkorn alle Vorwürfe zurück. Dass die Münchner Anklage bevorstand, war lange bekannt. Die Braunschweiger Ermittler schafften es dann aber, Mitte April die erste Anklage in der Abgasaffäre in Deutschland vorzulegen.

Zu den Angeschuldigten zählt auch der frühere VW-Markenvorstand Heinz-Jakob Neußer, einst ein Winterkorn-Vertrauter. Neußer hat ebenso wie Winterkorn alle Vorwürfe zurückgewiesen. Die drei übrigen Angeschuldigten sind Techniker unterhalb der damaligen Chefetagen. Die Techniker sollen selbst an den Manipulationen mitgewirkt haben. Winterkorn und Neußer sollen später von den Manipulationen erfahren haben, aber nicht eingeschritten sein. Was die beiden dementieren.

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SZ vom 10.09.2019/hgn
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