Ex-Volkswagen-Chef vor Gericht:Winterkorn macht voraussichtlich Gesundheitsprobleme geltend

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Vor dem parlamentarischen Abgas-Untersuchungsausschusses hat er schon ausgesagt: Winterkorn 2017 im Bundestag. (Foto: Bernd von Jutrczenka/dpa)

War der frühere VW-Chef Mitglied einer kriminellen Bande? Der Diesel-Prozess gegen Martin Winterkorn wird lange dauern. Der Fall offenbart ein grundsätzliches Problem der deutschen Justiz.

Von Klaus Ott

Freispruch? Geldstrafe? Gefängnis? Gut fünf Jahre nach dem Auffliegen der Abgasmanipulationen bei Volkswagen ist noch immer nicht klar, welche juristischen Folgen der Skandal für den ehemaligen Konzernchef Martin Winterkorn haben wird. Zwei Prozesse beim Landgericht Braunschweig stehen ihm bevor. Das eine Verfahren, wegen bandenmäßigen Betrugs und anderer mutmaßlicher Delikte, soll Ende Februar, Anfang März nächsten Jahres beginnen. Das andere Verfahren, wegen angeblicher Manipulation des Börsenkurses von VW, dürfte folgen. Wann aber entschieden wird, ob Winterkorn gegen Gesetze verstoßen hat, ist nicht absehbar.

Der frühere VW-Chef wehrt sich heftig gegen die Vorwürfe. Doch Winterkorn, inzwischen 73 Jahre alt, soll nicht mehr bei bester Gesundheit sein. Von zwei Fußoperationen in diesem und im vergangenen Jahr ist in seinem Umfeld die Rede, von Reha und einer Zeit im Rollstuhl. Hinzu kommt ein altes Hüftleiden. Am 6. Oktober will die Wirtschaftsstrafkammer des Landgerichts Braunschweig mit den Staatsanwälten und Verteidigern den Prozessablauf im Betrugsverfahren besprechen.

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Im Kreise von Verfahrensbeteiligten wird nach Informationen von SZ und NDR davon ausgegangen, dass Winterkorns Anwalt Felix Dörr den Gesundheitszustand seines Mandanten am 6. Oktober oder später ansprechen wird. Wäre der Ex-Konzernchef nur eingeschränkt verhandlungsfähig, dann würde das den Prozess stark beeinträchtigen. Dörr äußert sich auf Anfrage nicht. "Unser Ansprechpartner ist das Gericht", sagt er. Aber dass Winterkorns Gesundheitszustand ein Thema werden wird, hat sich auch bis zur Braunschweiger Staatsanwaltschaft herumgesprochen.

Bis das Gericht urteilt, dürfte der Angeklagte 75 Jahre alt sein und nicht gesünder

Mehr als dreieinhalb Jahre hat diese gebraucht, um die Ermittlungen gegen Winterkorn und vier weitere VW-Leute abzuschließen und eine Anklage vorzulegen. Fast eineinhalb Jahre dauerte es dann, ehe das Landgericht die Anklage mit etlichen Änderungen zuließ. Die Wirtschaftsstrafkammer hat die Vorwürfe teils entschärft, teils verschärft. Hinzu kommt die Pandemie, die große Prozesse mit vielen Leuten im Saal nicht einfacher macht. Zumal mit einem dann fast 74-jährigen Angeklagten, der zur Corona-Risikogruppe zählt.

Bis das Gericht über das Schicksal des Ex-Konzernchefs entscheidet, dürfte dieser 75 Jahre alt sein und nicht gesünder. Hinzu kommt die lange Zeit, in der Winterkorn öffentlich den Vorwürfen ausgesetzt war, von Betrügereien gewusst und diese nicht unterbunden zu haben. So lange mit ungeklärten Anschuldigungen leben zu müssen, wird bei Gericht strafmildernd angerechnet. In Medienberichten heißt es, im Fall einer Verurteilung könnten Winterkorn wegen bandenmäßigen Betrugs maximal zehn Jahre Freiheitsstrafe drohen, wegen möglicher Irreführung von Anlegern eine Geldstrafe oder bis zu fünf Jahre Haft. Aber müsste er im Falle eines Schuldspruchs in seinem Alter, in seinem Zustand und nach so vielen Verfahrensjahren wirklich noch ins Gefängnis? Wohl kaum.

Der Fall offenbart ein grundsätzliches Problem in der deutschen Justiz. Große Wirtschaftsverfahren dauern oft so lange, dass am Ende kaum jemand aus der Chefetage mit harten Strafen rechnen muss, selbst bei hohen Schäden. Die Abgasaffäre hat den VW-Konzern in den USA mehr als 20 Milliarden Dollar gekostet, in Deutschland mehr als zwei Milliarden Euro. Mehr als zehn Milliarden hat Deutschlands größter Steuerskandal mit Namen Cum-Ex nach Schätzungen von Ermittlern den Fiskus, also die Bürger, gekostet. Banken und deren Helfer haben den Staat ausgenommen, indem sie sich bei Aktiendeals von den trickreich getäuschten Finanzbehörden Steuern erstatten ließen, die zuvor gar nicht gezahlt worden waren.

Einer der mutmaßlichen Drahtzieher, der Frankfurter Steueranwalt Hanno Berger, hat sich vor knapp acht Jahren in die Schweiz abgesetzt. Vor drei Jahren erging Anklage gegen ihn und andere Beschuldigte. Jetzt erst, im Oktober, beginnt der Prozess am Landgericht Wiesbaden. Einen Haftbefehl gegen den Steueranwalt, mit dem ihn die Ermittler aus der Schweiz holen wollten, hat das Gericht abgelehnt. Berger geht auf die 70 zu und macht über seine Anwälte geltend, dass er krank und verhandlungsunfähig sei. Bislang hatte er immer wieder zweierlei beteuert: Er sei unschuldig, und er werde sich dem Verfahren stellen. Mit Letzterem ist es nun vorbei.

So weit dürfte Winterkorns Anwalt Dörr nicht gehen. Dörr gilt unter Berufskollegen als harter, geradliniger Strafverteidiger. Als jemand, der mit offenem Visier kämpft. Und mit dem sich reden lässt. Wenn Dörr in den nächsten Wochen dem Gericht und der Staatsanwaltschaft berichtet, Winterkorn sei nicht in bester Verfassung, dann ist das ernst zu nehmen. Zwei Mal die Woche, Dienstag und Donnerstag, will das Landgericht Braunschweig laut Verfahrensbeteiligten verhandeln. Winterkorn muss aus München anreisen, wo er wohnt. Sollte er zwei volle Verhandlungstage nicht durchstehen, sondern nur halbe Tage, dann würde sich das Verfahren noch länger hinziehen.

Dabei ist die Materie ohnehin kompliziert genug. Es geht um Abgasnormen, eine manipulierte, für Außenstehende nicht durchschaubare Motorsteuerungssoftware und einen überhöhten, laut Umweltbundesamt gerade für Anwohner viel befahrener Straßen gesundheitsschädlichen Ausstoß von Stickoxiden. Autokäufern seien, so die Anklage, schmutzige Diesel-Fahrzeuge als sauber und somit zu überhöhten Preisen verkauft worden. Außerdem sollen sich Winterkorns vier Mitangeklagte der Steuerhinterziehung in einem besonders schweren Fall beziehungsweise der Beihilfe dazu schuldig gemacht haben.

Winterkorn selbst weist alle Vorwürfe zurück. Dass er nun sogar Mitglied einer Bande gewesen sein soll, stellen er und seine Verteidigung erst recht in Abrede. Hier geht das Gericht weit über die Anklage hinaus, in der von einer Bande keine Rede ist. Die Wirtschaftsstrafkammer des Landgerichts Braunschweig hegt den Verdacht, die für die manipulierte Software verantwortlichen Techniker hätten sich von 2006 an zum Betrug verabredet. Dieser Bande könne sich der damalige VW-Chef im Frühjahr 2014 beziehungsweise im Frühjahr oder Sommer 2015 angeschlossen haben, als er von den Manipulationen erfahren, dagegen aber nichts unternommen habe. So der Vorwurf.

Auch in anderer Hinsicht hegt das Gericht einen schwereren Verdacht als die Staatsanwaltschaft. Bei Winterkorn komme ein "Tatzeitraum" bereits seit Juli 2012 in Betracht, als er möglicherweise von Manipulationen erfahren habe. Und nicht erst, wie die Ermittler annehmen, von Mai 2014 an. Beim Juli 2012 sieht das Gericht zwar lediglich einen Anfangsverdacht, dem die Wirtschaftsstrafkammer im Prozess aber nachgehen will. Das ist noch mehr Stoff für ein ohnehin verfahrenes Verfahren.

© SZ vom 26.09.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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