"Wikipedia stirbt", verkündete unlängst ein deutsches Lifestyle-Magazin. Der Grund: Immer weniger Autoren wollen bei der Internetenzyklopädie mitmachen. Noch sind die Exitus-Meldungen verfrüht und übertrieben: Wikipedia zählt mittlerweile fast 35 Millionen Artikel in rund 280 Sprachen, jeden Tag nutzen Millionen Menschen das Lexikon. Am größten ist die englischsprachige Version mit knapp fünf Millionen Artikeln, die deutschsprachige liegt mit fast 1,9 Millionen auf dem zweiten Rang, kann dafür aber im Durchschnitt mit den ausführlichsten Darstellungen aufwarten. Doch die Begeisterung, eigenes Wissen mit aller Welt zu teilen, erfasst immer weniger Menschen. 2007 war dabei der Gipfel erreicht, seitdem geht es kontinuierlich bergab.
Wissenschaftler der Universitäten von Berkeley, Washington und Minnesota haben in der Studie "The Rise and Decline of an Open Collaboration System" zwei Hauptgründe für diese abfallende Kurve ausgemacht: Da ist zum einen das abschreckend komplizierte Regelwerk der Wikipedia. Wer dagegen verstößt, dessen Textbeiträge werden "revertiert", also gelöscht. Zum anderen mangelt es an Willkommenskultur: zwar gibt es viele Empfehlungen, wie neue Autoren zu behandeln sind - doch das klappt selten.
Der Grundton auf den Diskussionsseiten, die es zu jedem Artikel gibt, ist gereizt, die in den Wikipedia-Regeln vorgeschriebene Freundlichkeit eher die Ausnahme. Die amerikanischen Wissenschaftler haben dem Gesamtphänomen einen Namen gegeben: "Calcification" - Verkalkung. Wikipedia leidet an fortschreitender bürokratischer Erstarrung, die den verzweifelt gesuchten "goldenen Autoren", die sowohl guten Willen als auch profundes Fachwissen mitbringen, das Mitmachen verleidet.
Ein Fußballexperte klagt
Besonders schwer von den rückläufigen Zahlen der Autoren ist die deutschsprachige Version des Lexikons betroffen. Die Zahl der aktiven Wikipedianer ist auf mehrere Tausend zurückgegangen. Manche der langjährigen Aktivisten begründen ihren Ausstieg, so wie etwa der Fußballexperte mit dem Pseudonym Ureinwohner. Auf seine Profilseite hat er den Spruch gestellt: "Die Revolution frisst ihre eigenen Kinder ... die Wikipedia auch".
Der Italienexperte Hans-Jürgen Hübner merkt auf seiner Seite an: "Leider hat die unangemessene Diskussionskultur sehr viele Autoren verprellt - und noch viel mehr von vornherein abgeschreckt." Hinzu kommt, dass von den verbliebenen Aktivisten nur ein Bruchteil zur inhaltlichen Erweiterung und Verbesserung beiträgt. Die meisten sind Häkchenmacher: Sie beschränken sich auf die Korrektur von Komma- und Tippfehlern, vereinheitlichen Textformate, verlinken Textelemente. Dies ist kein Kleinkram, sondern Kärrnerarbeit, damit die Enzyklopädie überhaupt funktioniert.
Doch bei den Inhalten ist man im Kriechgang angelangt. Um die WP-User zu mehr Aktivität und Kreativität zu verleiten, werden einige interne Auszeichnungen ausgelobt, vom "Wikikranz mit Stern" über den "Artikel des Tages" bis zum "Schreibwettbewerb". Der Erfolg ist überschaubar: nur wenige Dutzend beteiligen sich daran. Und die Ergebnisse sind mitunter angreifbar, wie ein sich seit drei Jahren hinziehender bizarrer Streit um den "Schreibwettbewerb 2011" zeigt, bei dem der Artikel "Das Massaker von Katyn" siegte. In der Nähe dieses russischen Dorfes hat Stalin 1940 mehr als 4000 polnische Offiziere und Fähnriche, überwiegend Reservisten mit Hochschulbildung, erschießen lassen. Der 75. Jahrestag war Anlass für eine Gruppe junger Historiker, Publikationen dazu zu untersuchen, darunter auch den preisgekrönten Wikipedia-Artikel. Das Ergebnis: Er enthält mehr als 130 Sachfehler, darunter einige schwere Brocken, und er ignoriert die neue Fachliteratur vollkommen.
Nun ist es das Prinzip von Wikipedia, dass Autoren Fehler in einem Artikel verbessern und den Inhalt ergänzen. Doch der Sieger des Schreibwettbewerbs blockiert jede Korrektur und Ergänzung. Dutzende von Korrigierversuchen, an denen sich anfangs auch der Autor dieses Textes beteiligte, hat er revertiert - mit der Begründung, die Wikipedia-Gemeinschaft habe den Katyn-Artikel ja als "exzellent" bewertet. Dabei haben an der Bewertung nur ein paar Dutzend Wikipedianer teilgenommen. Diese kuriose Kontroverse - erst wird ein von Fehlern strotzender Artikel ausgezeichnet, dann wird deren Verbesserung verhindert - mag ein Extremfall sein. Doch lassen sich an ihm die Mechanismen aufzeigen, die zur "Verkalkung" Wikipedias führen. Denn es handelt sich um eine klassische Konfrontation zwischen Power-Usern, wie es im Wiki-Slang heißt, die aber Amateure sind, und "goldenen" Fachautoren, die indes weder Zeit noch Ehrgeiz haben, in der inneren Hierarchie der großen digitalen Gemeinschaft aufzusteigen.
Wie die amerikanischen Wissenschaftler darlegen, neigen die Power-User zur Vereinsmeierei. Oft betrachten sie neue Autoren als Eindringlinge in ihre Welt, in der zudem ein für Außenstehende unverständlicher Techno-Slang gesprochen wird. Hinzu kommt ein Konstruktionsfehler: Die tragende Säule im System sind gewählte "Administratoren", die auf die Einhaltung der Regeln achten und Konflikte schlichten sollen. Sie sind in Streitfällen gleichzeitig Untersuchungsführer, Ankläger und Richter. Sie können Autoren sperren.
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Konstruktion mit Konfliktstoff
Nun sind Administratoren zunächst einmal Menschen, die sich ehrenamtlich für eine große Sache einsetzen. Doch birgt die Konstruktion viel Konfliktstoff in sich: Seiten, auf denen die Nutzer diskutieren, können, sind voll von Klagen über Selbstherrlichkeit und Willkür von Administratoren. Da gegen ihre Entscheidungen in der Praxis kaum anzukommen ist, erlauben sich manche von ihnen Verstöße gegen die Regeln, über deren Einhaltung sie eigentlich wachen müssen. So ist es auch im Streit um den Katyn-Artikel: Die offenkundig als störend empfundene Liste mit den 130 Fehlern, die auch genaue Quellenhinweise enthält, hat ein permanent genervt klingender Administrator ohne inhaltliche Begründung schlicht aus der Diskussionsseite entfernt und den Protest dagegen ebenfalls. Mehrere andere Administratoren sind ihm beigesprungen - man schließt sich in der Power-User-Sekte, wo man sich oft persönlich kennt, gegen Besserwisser von außen zusammen. Der Grundgedanke von Wikipedia, eine offene Plattform zu sein, bleibt dabei auf der Strecke. Und alle Vorurteile über Qualitätsmängel werden bestätigt.
Eigentlich hat man bei den Wikipedianern keine Illusionen darüber. Die Statistik für 2014 weist ganze 2,09 Prozent der Gesamtzahl der deutschsprachigen Artikel als "lesenswert" aus - nach den Kriterien, die die Wiki-Community selbst definiert hat. Eine der tieferen Ursachen für diese niedrige Zahl liegt im Profilierungsdrang vieler Power-User: Sie sehen die eigentlich auf kollektive Arbeit angelegte Interaktion als Dauerduell an. Dass auf diese Weise "goldene Autoren" vergrault werden, ist längst Alltag geworden: 85 Prozent steigen nach weniger als einem Jahr wieder aus.