Pipers Welt:Stunde Null

Pipers Welt: An dieser Stelle schreibt jeden zweiten Freitag Nikolaus Piper. Illustration: Bernd Schifferdecker

An dieser Stelle schreibt jeden zweiten Freitag Nikolaus Piper. Illustration: Bernd Schifferdecker

Viel ist von den Fehlern die Rede, die nach der Wiedervereinigung im Osten begangen wurden. Aber das ist zu kurz gedacht.

Von Nikolaus Piper

Einst gab es in der DDR ein schönes Lehrbuch mit dem Titel "Einführung in den dialektischen und historischen Materialismus". In ihm findet sich dieser Satz: "Wir leben und wirken in der stürmischen und erregenden Epoche des Übergangs vom Kapitalismus zum Sozialismus." Aus der Perspektive des Jahres 2019 ist es leicht, sich über so etwas lustig zu machen (wahrscheinlich würde es heute nicht einmal Kevin Kühnert so formulieren.) Aber der Satz zeigt doch, wie wenig die marxistisch Gebildeten in der DDR vor 30 Jahren darauf vorbereitet waren, das Gegenteil zu organisieren, den Übergang vom Sozialismus zum Kapitalismus.

Das ist wichtig, um zu verstehen, was vor 30 Jahren mit der DDR-Wirtschaft geschah. Nach der Revolution im Herbst 1989 und dem Fall der Berliner Mauer am 9. November erlebte Ostdeutschland so etwas wie eine Stunde Null. Der Begriff ist ebenso gebräuchlich wie umstritten, wenn es um den 8. Mai 1945 geht, um das Ende des Zweiten Weltkrieges und die Befreiung vom Nationalsozialismus. Auf den 9. November 1989 trifft er jedoch ganz sicher zu: Alle wussten, dass das alte System am Ende war. Niemand hatte eine Ahnung, wie es weitergehen würde.

Daran ist zu erinnern, wenn in diesen Tagen so viel die Rede ist von den Fehlern, die angeblich vor und nach der Wiedervereinigung begangen wurden. Oder wenn es gar heißt, dass der Westen den Osten "übernommen" habe. Es war in den Wochen nach dem 9. November 1989, als die Wahrheit über den tatsächlichen Zustand der sozialistischen Wirtschaft nach und nach bekannt wurde. Die Experten in den (West-)Ministerien für Wirtschaft und für innerdeutsche Beziehungen erkannten, dass sie die Leistungskraft des Sozialismus hoffnungslos überschätzt hatten. Gerade heute lohnt es sich, die Zahlen nachzulesen, die damals nach und nach an die Öffentlichkeit kamen.

Zum Beispiel die "Analyse der ökonomischen Lage der DDR mit Schlussfolgerungen", die die staatliche Plankommission am 27. Oktober 1989 an SED-Generalsekretär Egon Krenz geschickt hatte. Darin heißt es: "Die DDR hat, bezogen auf den NSW-Export, 1989 eine Schuldendienstrate von 150%." Auf deutsch: Die DDR musste für den Schuldendienst aus kapitalistischen Ländern ("NSW" stand für "Nicht-Sozialistisches Wirtschaftsgebiet") 50 Prozent mehr ausgeben, als sie aus Exporten einnahm.

Nur acht Prozent der DDR-Arbeitnehmer arbeiteten 1989 in wettbewerbsfähigen Betrieben

Wollte die DDR den Weg in den Staatsbankrott stoppen, wäre eine "Reduzierung der Konsumtion um 25 - 30 %" nötig, schrieben die Experten der Plankommission. Den DDR-Bürgern drohte also, selbst nach Einschätzung der SED, ein radikales Sparprogramm mit dramatischen Abstrichen von ihrem ohnehin geringeren Lebensstandard für den Fall, dass der Staat weiter bestanden hätte.

Dass die DDR am Ende bankrott war, gehört heute zum Allgemeinwissen, die Konsequenz dieser Aussage weniger. Jedenfalls sollte man diese Zahlen im Hinterkopf behalten, wenn in diesen Tagen immer wieder Bilder von Schlangen vor Arbeitsämtern in den letzten Monaten der DDR gezeigt werden.

Noch aufschlussreicher und doch fast vergessen ist eine amerikanische Studie, die im März 1991 unter dem Titel "East Germany in From the Cold" (frei übersetzt: "Ostdeutschland ist wieder zuhause") erschien. Autoren sind fünf Ökonomen, darunter zwei, die es später zu globalen Ruhm bringen sollten: Janet Yellen, damals 44, spätere Präsidentin der US-Notenbank Federal Reserve. Außerdem ihr Mann George Akerlof, damals 50, der 2001 mit dem Wirtschaftsnobelpreis ausgezeichnet wurde. Yellen, Akerlof und ihre Kollegen rechneten vor, was die Einführung der D-Mark zum ökonomisch falschen, politisch aber unvermeidbaren Kurs von einer Mark West für eine Mark Ost (für laufende Einkommen) bedeutete. Das Dresdner VEB Pentacon brauchte vor der Wende sieben Mark Ost, um eine Mark West zu verdienen. Als aus den Ostmark sieben harte Westmark Kosten wurden, war der Wert des Unternehmens plötzlich negativ. Der Treuhand blieb nichts anderes übrig, als das Unternehmen abzuwickeln. Nur acht Prozent der DDR-Arbeitnehmer arbeiteten bei der Wiedervereinigung in wettbewerbsfähigen Betrieben.

Die Akerlof-Yellen-Studie schlug damals vor, dass die Bundesregierung in privatisierten Ost-Betrieben 75 Prozent der Lohnkosten übernimmt. Zum Ausgleich hätten die Gewerkschaften auf weitere Lohnsteigerungen verzichten müssen. Das Modell wurde nie erprobt, es war nicht durchsetzbar. Stattdessen betrieb die IG Metall die Angleichung der Ost- an die Westlöhne binnen weniger Jahre, was die Vernichtung der letzten Industriearbeitsplätze noch beschleunigte.

Theoretisch hätte man einen Teil der Arbeitsplätze erhalten können, hätte man die Ostlöhne in Westmark umgetauscht, sie dann aber der niedrigen Produktivität angepasst. Dabei wären aber Monatslöhne von 3oo Mark oder weniger herausgekommen. Das verbot sich schon deshalb, weil es in den Geschäften der DDR längst Westprodukte zu Westpreisen gab.

Das bedeutet nicht, dass bei der Wiedervereinigung alles richtig gemacht wurde. Es bedeutet auch nicht, dass alle Wessis, die nach der Wende im Osten Geschäfte machten, gute Menschen waren. Aber es bedeutet, dass es heute nicht vorrangiges Ziel sein sollte, Löhne und Renten in Ost und West vollends anzugleichen, sondern mittels Investitionen die verbliebene Lücke in der Produktivität zwischen West und Ost zu schließen. Es bedeutet auch, dass man aufhören sollte, Häme über Helmut Kohls Wort von den "blühenden Landschaften" zu verbreiten. Besonders, wenn man bedenkt, wie es zur Stunde Null in der DDR aussah.

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