Widerstand gegen Stromtrassen:Zweifeln und Zaudern bei der Energiewende

Hochspannungsleitung

Sobald Widerstände auftauchen, zucken deutsche Politiker bei der Energiewende zurück.

(Foto: Julian Stratenschulte/dpa)

Bayerns Ministerpräsident Seehofer ist bekannt für seine Kehrtwendungen. Populismus gibt es bei der Energiewende aber nicht nur in Bayern: Die Politiker folgen den Bürgern - statt ihnen die Dinge zu erklären.

Ein Kommentar von Ulrich Schäfer

Friedrich Dürrenmatt, der Schweizer Dramatiker, schrieb des Öfteren darüber, dass Menschen größer sein wollen, als sie in Wahrheit sind. Und wohl in keinem seiner vielen Bücher, Hörspiele und Theaterstücke hat er dies so scharf karikiert wie in der Komödie "Die Physiker". Das Stück aus dem Jahr 1962 handelt von drei Physikern in einer Irrenanstalt; einer von ihnen behauptet, er sei Albert Einstein, ein anderer, er sei Isaac Newton. Dürrenmatt war aber nicht nur ein begnadeter Autor, sondern auch jemand, der sich für die Politik interessierte. Und auch hier sah er einen Hang, sich aufzublasen: "Je öfter sich ein Politiker widerspricht, desto größer ist er", schrieb er mal.

So besehen wirkt Horst Seehofer in diesen Wochen wie ein geradezu übergroßer Politiker. Der bayerische Ministerpräsident ist bekannt für seine vielen Links-, Rechts- und Kehrtwendungen. Doch was er derzeit bei der Energiewende vollführt, ist noch einmal eine Steigerung all dessen. Seehofer stemmt sich gegen Windräder, die allzu nah an Bayerns Dörfern stehen - obwohl ihm der Ausbau lange nicht schnell genug gehen konnte. Er ist gegen Pumpspeicherkraftwerke - obwohl man solche oder andere Speicher braucht, um an Tagen mit viel Wind und Sonne die überschüssige Energie zu speichern.

Und nun kündigt er auch noch "erbitterten Widerstand" gegen jene Stromtrassen an, die sauberen Windstrom aus dem deutschen Norden nach Bayern transportieren sollen. Als hätte er nicht jahrelang genau diese Stromautobahnen gefordert (und im Bundesrat dafür gestimmt), springt der Volkstribun Seehofer plötzlich jenen Landräten, Bürgermeistern und Bürgern im Norden des Freistaats bei, die sich gegen die angeblichen "Monstertrassen" auflehnen.

Solch ein Verhalten ist fürchterlich, denn es offenbart, jenseits aller berechtigten Fragen zum Bau der Leitungen, das entscheidende Manko der Energiewende: Die meisten Politiker (und dies betrifft nicht nur Seehofer) zweifeln und zaudern, sie springen hierhin und dorthin. Aber sie schaffen es nicht, das wichtigste industriepolitische Projekt, das es in Deutschland gibt, den Bürgern im Zusammenhang zu erklären - und sie dafür zu gewinnen.

Hauptsache, weit weg

Exemplarisch steht dafür der bayerische Populismus. In abgeschwächter Form ist dieses Verhalten aber auch anderswo zu beobachten - in Berlin ebenso wie in den übrigen Bundesländern. Sobald Widerstände auftauchen, zuckt man zurück - dabei würden am Ende alle profitieren, wenn die deutsche Stromversorgung sauberer (weniger Kohle) und sicherer (keine Atomkraftwerke) wäre.

Man erinnere sich: Als vor drei Jahren der Reaktor im japanischen Fukushima in die Luft flog, war Seehofer einer der Ersten, die möglichst viele Meiler abschalten wollten und den verstärkten Ausbau der erneuerbaren Energien forderten. Er und sein damaliger Umweltminister Markus Söder trieben die Bundeskanzlerin vor sich her. Das bayerische Atomkraftwerk Grafenrheinfeld bei Schweinfurt wird 2015 abgeschaltet. Deshalb war klar: Es muss bald Ersatz für den Atomstrom her - am besten aus Bayern (aber der Ausbau der Windkraft geht dort nicht so schnell voran wie anderswo), oder eben aus dem Norden der Republik. Andernfalls drohen schon bald Blackouts.

Hart verhandelten Seehofer und seine Leute deshalb über den Ausbau der Netze. Die "Thüringer Strombrücke", eine besonders wichtige Verbindung in dem neuen Geflecht aus Gleichstromleitungen, tauchte in fast jeder Rede auf, die ein bayerisches Kabinettsmitglied zur Energiewende hielt. "Thüringer Strombrücke" - das klang weit weg, wie ein Projekt, das Bayern nicht berührt. Nun aber wird vielen Menschen bewusst, dass auch bei ihnen neue, bis zu 70 Meter hohe Strommasten und neue Leitungen gebaut werden - und zwar nicht bloß in Bayern, sondern auch in allen anderen Bundesländern. Man ahnt: Es wird noch sehr viel mehr Proteste geben.

Die Politik müsste deshalb den Bürgern schleunigst erklären, dass es bei der Energiewende, vereinfacht gesagt, nur zwei mögliche Wege gibt. Erstens: den großen Masterplan, bei dem man die Stromversorgung republikweit organisiert und die Lasten gemeinsam verteilt - dazu gehören nicht nur Windräder und Kollektoren, sondern auch die Leitungen und Gaskraftwerke, die anspringen, wenn es dunkel und windstill ist. Oder aber zweitens: die dezentrale Lösung, bei der möglichst viel Strom lokal produziert wird - und sei es durch das Windrad in Sichtweite des eigenen Hauses.

Beides abzulehnen, das funktioniert nicht. Oder wie es in den "21 Punkten zu den Physikern", einem Anhang zu Dürrenmatts Komödie, unter Punkt 17 heißt: "Was alle angeht, können nur alle lösen."

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: