Wetten auf Getreide:Eine Frage des Überlebens

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Das Getreide wird knapp - aber nicht, weil Russland brennt und Pakistan unter Wasser steht. Wer nach den Ursachen sucht, muss einen Blick auf die Finanzzentren dieser Welt werfen. Dort werden Milliardenbeträge auf Agrarprodukte gewettet.

Silvia Liebrich

So schnell kann sich das Blatt wenden: Noch im Juni sagten Agrarexperten eine weltweite Rekordernte vorher. Zwei Monate später häufen sich die Hiobsbotschaften aus der Landwirtschaft. Der Osten Europas leidet unter der größten Trockenheit seit Jahrzehnten. In Russland brennen Äcker und Wälder, während Pakistan in Regenfluten versinkt. Große Weizenproduzenten wie Deutschland, Frankreich und Spanien haben ihre Ertragsprognosen nach unten korrigiert und die Weltbank warnt bereits vor der nächsten Ernährungskrise.

Spekulanten interessieren sich auch für Getreide - ganz gleich ob Weizen, Roggen oder Hafer. Das Foto zeigt einen Mähdrescher bei der Ernte in Sachsen. (Foto: ddp)

Sorgen sind durchaus berechtigt. Mit den jüngsten Ereignissen haben sie jedoch wenig zu tun. Missernten durch Dürren oder Überschwemmungen sind vorübergehende Phänomene. Schon im nächsten Jahr kann sich die Lage wieder normalisieren. Gegen eine durch Naturkatastrophen verursachte Hungerkrise spricht auch, dass Getreide trotz der jüngsten Rückschläge am Weltmarkt derzeit nicht knapp ist. Ganz im Gegenteil: Nach der Rekordernte des vergangenen Jahres sind die Lager so gut gefüllt wie seit 30 Jahren nicht mehr.

Die Situation lässt sich also nicht mit der vor drei Jahren vergleichen, als eine Nahrungsmittelkrise in armen Ländern zu Unruhen führte. Damals erreichten die Getreidereserven einen gefährlich niedrigen Stand. Weizen, Mais und Reis wurden innerhalb kürzester Zeit so teuer, dass die Lebensgrundlage vieler Menschen in Südamerika, Asien und Afrika gefährdet schien. Ein politischer Krisengipfel folgte dem nächsten - ohne nennenswerte Ergebnisse.

Wetten, die Profit versprechen

Trotz der hohen Weltbestände an Getreide schossen die Weizenpreise an den Rohstoffbörsen zuletzt deutlich in die Höhe, teilweise um mehr als 50 Prozent. Dazu beigetragen hat auch der von Russland verhängte Exportstopp von Weizen. Das Land ist einer der großen Erzeuger in Europa und beliefert arme Länder wie Bangladesch, die sich nun andere Lieferanten suchen müssen. Russland will sein Ausfuhrverbot sogar bis weit ins nächste Jahr verlängern.

Nachrichten wie diese sind ein gefundenes Fressen für Finanzinvestoren, die vom Auf und Ab der Landwirtschaft profitieren wollen - eine erfolgversprechende Wette, denn die rasant wachsende Weltbevölkerung muss ernährt werden. Banken, Investment- und Hedgefonds sorgen so für eine künstliche Nachfrage am Markt. Die Anzahl an Finanzprodukten ist mittlerweile unüberschaubar. Mit ihrer Hilfe können selbst Kleinanleger partizipieren, ohne direkt mit Getreide handeln zu müssen.

Grenzen für Investoren

Das Gefährliche daran ist, dass diese Investitionen inzwischen eine Größenordnung erreichen, die das Volumen an tatsächlich vorhandenen Feldfrüchten um ein zigfaches übersteigen. Während etwa 2003 nur 13 Milliarden Dollar in Indexfonds auf Weizen steckten, waren es 2008 bereits 318 Milliarden Dollar. Ein Trend, der sich durch die Finanzkrise verstärkt hat, weil verschreckte Investoren auf der Suche nach sicheren Geldanlagen in Agrarrohstoffe flüchteten.

Die aktuellen Weizenpreise spiegeln daher nicht das reale Verhältnis von Angebot und Nachfrage wieder, sondern unter anderem die Angst der Anleger vor einem Zusammenbruch des Finanzsystems. Sollte es in den nächsten Monaten tatsächlich zu Versorgungsengpässen kommen, so liegt das weder an den Bränden in Russland, noch an den Wassermassen in Pakistan. Wer nach den Ursachen sucht, muss einen Blick auf die Finanzzentren dieser Welt werfen, wo Milliardenbeträge auf Agrarprodukte gesetzt werden und das weitgehend unreguliert.

Der nächste Hungerkrisengipfel ist nur eine Frage der Zeit. Mit Milliardenspenden wird es dann nicht mehr getan sein. Die Politiker werden sich endlich ernsthaft damit befassen müssen, wie sie den preistreibenden Spekulationen an den Agrarmärkten Grenzen setzen. Das sind sie den Menschen in ärmeren Ländern schuldig, für sie ist bezahlbares Essen keine Frage der Rendite, sondern eine Frage des Überlebens. (Seite 17)

© SZ vom 16.08.2010 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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