Seit 1998 werden die Leistungen der Westdeutschen für den Osten nicht mehr offiziell erfasst.
Sollte die neu gewählte rot-grüne Bundesregierung damals allerdings beabsichtigt haben, mittels Bereinigung der Statistik die Gemüter in der wirtschaftlich immer noch geteilten Nation zu beruhigen, so ist sie gescheitert.
Noch nie seit der Wiedervereinigung haben die Deutschen so leidenschaftlich über West-Ost-Transfers gestritten wie heute. Den letzten Schwung in die Debatte brachte Klaus Schröder, Leiter des Forschungsverbundes SED-Staat an der Freien Universität Berlin.
Zahlenspiele
In einem Beitrag für die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung nannte er die Summe von 1,5 Billionen Euro seit 1990. Viel zu hoch gegriffen, entgegnete der zuständige Minister Manfred Stolpe.
Aber welche Zahl stimmt dann? Die Frage ist gar nicht so leicht zu beantworten. Das Kieler Institut für Weltwirtschaft (IfW) hat schon 1996 aufgehört, die Transfers zu berechnen; die Ökonomen glauben, dies nicht mehr solide leisten zu können.
"Man kann heute nicht mehr genau sagen, wo der Westen aufhört und der Osten anfängt," sagt Alfred Boss, in der Konjunkturabteilung des IfW zuständig für Öffentliche Finanzen. "Aldi liefert in die neuen Länder, die Mehrwertsteuer fällt aber in den alten an - wie will ich das zurechnen?"
Auch Joachim Ragnitz glaubt, dass für die Berechnung der Transfers "ein erhebliches Maß an Schätzung" notwendig ist. Ragnitz, Leiter der Abteilung Strukturwandel beim Institut für Wirtschaftsforschung Halle (IWH), hat es trotzdem versucht.
Von ihm stammen die am meisten zitierten Zahlen: 83 Milliarden Euro netto im vergangenen Jahr; seit 1990 insgesamt 1,25 Billionen brutto und 950 Milliarden netto (unter Berücksichtigung der Steuerzahlungen aus dem Osten). Für die 1,5 Billionen Euro von Klaus Schröder hat Ragnitz keine Erklärung.
Der weitaus größte Teil der Bruttotransfers (116 Milliarden Euro 2003) floss in Sozialausgaben, also Renten, Arbeitslosenunterstützung, ABM (2003 über 50 Milliarden Euro).
Abgefedert
Direkt in den Aufbau Ost, also in Infrastruktur und Wirtschaftsförderung gingen nur 20 Prozent der Summe. Sonderleistungen für den Osten (Ragnitz: "Geld, das man in Westdeutschland nicht hätte bekommen können") machten 13 Prozent aus. Anders ausgedrückt: Das meiste Geld wurde nicht für Wachstum ausgegeben, sondern für die Abfederung des Status quo.
Für die Hallenser Zahlen spricht, dass andere Ökonomen mit anderen Methoden zu ähnlichen Ergebnissen kommen. Robert Koll, Mitarbeiter im Münchner Ifo-Institut, hat die letzten offiziellen Zahlen der Regierung seit 1999 fortgeschrieben, und zwar nach folgender Methode: Über die Wachstumsraten des Bruttoinlandsprodukts (BIP) in Ost und West rechnete er aus, wie sich das fiktive Leistungsbilanzdefizit der neuen Bundesländer entwickelte, also der Überhang der Nachfrage über die Produktion.
Von der Summe zog er den privaten Kapitalimport in die neuen Länder (2002: 28,2 Milliarden Euro) ab, vor allem die Direktinvestitionen, und kam so auf einen öffentlichen Transfer von 85 Milliarden Euro pro Jahr. Für die gesamte Zeit seit 1990 errechnete Ifo ebenfalls eine Summe von rund 950 Milliarden Euro netto.
Um in der Transferdebatte aus der Defensive zu kommen, haben die ostdeutschen Länder inzwischen eine Arbeitsgruppe gebildet, die verbindliche Zahlen liefern soll.
Die Federführung liegt bei Mecklenburg-Vorpommern. Dessen Wirtschaftsminister Otto Ebnet (SPD) rechnet fürs erste ebenfalls mit den Zahlen des IWH, deutet diese aber sehr speziell: Von den gesamten Transfers gingen 2003 nur zehn Milliarden Euro in die Wirtschaftsförderung, die Hälfte davon als rückzahlbare Kredite der KfW-Bankengruppe.
Die verbliebenen fünf Milliarden dienten zu einem erheblichen Teil der Förderung der Landwirtschaft und anderen Zwecken, nur 1,6 Milliarden kamen wirklich der Schaffung von Arbeitsplätzen zugute. "Das sind zwei Prozent der gesamten Transfers. Angesichts der kärglichen Summe muss man schon fragen, ob seit 1990 in Deutschland die Prioritäten richtig gesetzt wurden."