Werbung im Internet:Facebook erkennt das Leben, aber nicht den Tod

Menschen vor einem Facebook-Logo

Posten statt reden: Aber das Netz vergisst nichts - und bombardiert seine Nutzer dann gerne mit Werbung zu ihren zuletzt genannten Themen.

(Foto: Dado Ruvic/Reuters)

Die Kälte von Algorithmen zeigte sich bei einer Stillgeburt: Gilian Brockell hat ihr Baby verloren, aber sie wird immer noch mit Werbung für Mutter-Zubehör belästigt. Jetzt knöpft sie sich die sozialen Medien vor.

Von Jannis Brühl

30 000 Herzen sind Gillian Brockell zugeflogen, und alle sind sie gebrochen. Mit dem Herz-Symbol drücken Twitter-Nutzer ihre Anteilnahme aus. Denn Brockell hat einen Brief an die Tech-Unternehmen Facebook, Instagram und Twitter sowie die Credit-Scoring-Firma Experian auf Twitter veröffentlicht. Sie richtet eine Frage an diese Unternehmen, die Daten über Bürger sammeln. Eine Frage über Anstand in einer von Daten und Algorithmen getriebenen Gesellschaft: Warum konntet ihr meine Schwangerschaft erkennen, aber nicht den Tod meines Babys?

Die Videoredakteurin aus Washington hatte anfangs ihre Freude über ihre Schwangerschaft im Internet kundgetan. Sie verwendete den Hashtag #30weekspregnant, suchte im Netz nach Schwangerschaftskleidung und "babysichere Farbe für die Wiege". Sie legte bei Amazon eine "Baby-Wunschliste" an, über die Verwandte ihr Produkte für das Kind schicken lassen konnten, und bedankte sich bei Freundinnen für die Teilnahme an ihrer Baby-Party.

Die Werbeprogramme ignorierten Schlagworte zum Tod und Tränen-Emojis

Die Netzwerke, die Werbung im Internet verteilen, analysierten die Daten und speicherten: Diese Frau ist schwanger - und bombardierten sie mit Anzeigen für alles, was Schwangere so brauchen sollen.

So weit, so Internet. Doch Brockells Sohn wurde tot geboren. "Vier Pfund, eine Unze", schreibt sie. Sie trauerte mit ihrem Mann. Doch die besten Werbealgorithmen der Welt trauerten nicht mit. Obwohl Brockell "Baby bewegt sich nicht" gegoogelt und den Tod später sogar in einem Beitrag bekannt gegeben hatte, in dem düstere Schlagworte wie "Stillgeburt" und "untröstlich" standen. Die "zweihundert Tränen-Emojis meiner Freunde" seien ebenfalls ignoriert worden. Immer wenn sie aufs Handy schaute, sei sie wieder mit der Werbung konfrontiert worden: für Umstandskleidung und "jeden gottverdammten Nippes von Etsy, den ich fürs Kinderzimmer geplant hatte".

Das Phänomen kennen Internetnutzer: Werbung zu einem bestimmten Produkt oder Thema verfolgt sie über mehrere Webseiten - und ist auch noch da, wenn sie das Produkt längst gekauft haben. Denn der Kauf wird nicht an das Werbenetzwerk gemeldet. Was im Fall von Sneakern irritiert, empfand Brockell als konstante Demütigung, während sie um ihr Baby trauerte. Ständig erinnerte Werbung sie an die Katastrophe. Die Scoring-Firma Experian mailte ihr: Sie solle ihr Baby registrieren, damit dessen Kredithistorie von Geburt an gespeichert werden könne. Die Algorithmen nahmen an, die Geburt sei problemlos verlaufen. Für viele der mitfühlenden Kommentatoren unter Brockells Beitrag ist ihre Geschichte mehr als eine Anekdote und zeigt die Kälte des Geschäfts mit digitalem, angeblich maßgeschneidertem Marketing. Es ist die Geldmaschine im Herzen der Internet-Ökonomie.

Wer bestimmte Begriffe sucht, bestimmte Links klickt, den teilt zum Beispiel Facebook in Kategorien ein. Sie basieren auf den Interessen, die Facebook dem Nutzer zuordnet. Dann verkauft Facebook die digitalen Werbeflächen im Nachrichtenstrom des Nutzers an Firmen, die passende Produkte anbieten. Einige IT-Konzerne erfassen freudige Ereignisse: Jahrestage von Facebook-Freundschaften oder Geburtstage, Amazon kennt Geburtstermine, wenn Kunden sie für ihre "Baby-Wunschliste" angeben. Aber geht es um die dunklen Seiten des Lebens, versagen die Algorithmen.

Der Fall erzählt viel über die ethischen Kollateralschäden vermeintlich zielgenau ausgespielter Online-Werbung. Und über die Erwartungen, die wir mittlerweile mit Algorithmen verbinden. Für Gillian Brockell war es nicht die viel beschworene Allwissenheit der Algorithmen, die zum Albtraum wurde, sondern deren Dummheit: Einmal in eine Kategorie sortiert, kommt man so einfach nicht mehr aus ihr heraus. Im Bild der "künstlichen Intelligenz": Die Netzwerke waren geistig zu unflexibel, um dem Tod gerecht zu werden. Brockells Erfahrung widerspricht der verbreiteten Furcht vor perfekten Datensammlungen über Kunden und Überwachung durch Algorithmen. Die sind nicht mehr so primitiv, dass sie uns völlig abseitige Werbung zeigen. Sie sind aber auch noch nicht so komplex, dass sie sich an alle Unwägbarkeiten des Lebens anpassen. Um das zu schaffen, wären entweder noch größere Datensammlungen und feinsinnigere Algorithmen nötig - die Konzerne müssten also noch tiefer in die Privatsphäre eindringen. Oder bessere Möglichkeiten, Werbung einzuschränken, die intimste Lebensbereiche betrifft. Die Option, Anzeigen zum Thema "Schwangerschaft" und "Elternschaft" abzustellen, fand Brockell erst nach dem Hinweis einer Person, die ihren offenen Brief gelesen hatte. Während sie trauerte, seien diese Einstellungen zu verwirrend für sie gewesen. Sie fordert, dass ein Begriff für Fehl- oder Totgeburt (im Englischen stillbirth) "automatisch eine Werbepause" auslösen sollte. Auch im Deutschen wird öfter der Begriff Stillgeburt verwendet, aus Rücksicht auf betroffene Frauen.

Datenschutzaktivist Wolfie Christl äußert sich pessimistisch zu dem Fall: "Die heutige Werbetechnologie, die auf allgegenwärtigem Tracking basiert, kann man nicht reparieren." Gillian Brockell formuliert es so: "Wenn ihr klug genug seid, um zu merken, dass ich schwanger bin, dann seid ihr auch klug genug, um zu merken, dass mein Baby gestorben ist, und mir entsprechende Anzeigen zu zeigen, oder vielleicht, ganz vielleicht, überhaupt keine."

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