Weltwirtschaft:Europa handelt dumm

Der Rückzug ins Nationale hat die Wirtschaft erreicht - auch Deutschland, das so sehr vom freien Verkehr der Waren profitiert, will sich abschotten. Das wird sich rächen.

Kommentar von Cerstin Gammelin

Wer hätte sich das vor fünf Jahren vorstellen können? Der Wirtschaftsminister des Landes, das weltweit so sehr wie kein anderes vom freien Verkehr der Waren und des Kapitals lebt, macht sich daran, genau diese Freiheiten einzuschränken. Oder: Im rein rechnerisch noch immer weltgrößten Binnenmarkt, der Europäischen Union, errichtet eine kleine Region so hohe verbale Schutzwälle, dass sie ein Abkommen über Freihandel mit Kanada verhindern kann. Es sind zwei Vorgänge, die zeigen: Der Rückzug ins Nationale hat die Wirtschaft erreicht. Deutschland schottet sich ab vor chinesischen Käufern und die Wallonie vor kanadischen (und europäischen) Investoren.

Es ist nicht übertrieben, jetzt vor einem neuen Protektionismus zu warnen. Denn jedem Veto ist eine Abwägung von Interessen vorausgegangen. Die Wallonie hat sich entschieden, das Freihandelsabkommen mit Kanada zu blockieren, weil sie regionale Interessen verteidigen will. Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel will verhindern, dass ein chinesischer Investor deutsche Schlüsseltechnologien kontrollieren könnte. Ins Bild vom neuen Protektionismus passt auch Großbritannien. Aus nationalen Interessen heraus hat sich eine Mehrheit der Briten dafür entschieden, die Europäische Union zu verlassen. Der politische Abschied vom Kontinent ist schon schmerzhaft genug. Richtig ans Eingemachte geht es aber erst, wenn die Briten auch aus dem Binnenmarkt aussteigen.

Die Gefahr, dass die Gemeinschaft in nationalstaatliche Abschottung rutscht, ist durch den Austritt Londons realer geworden, als sie es etwa während der Euro-Krise war. Bundeskanzlerin Angela Merkel prägte damals den Satz: "Scheitert der Euro, scheitert Europa." Inzwischen ist viel Wasser Themse, Seine und Spree hinuntergeflossen. Es wird kaum über den Euro geredet, dafür aber über Europa und darüber, was davon zu retten ist.

Die Abschottung zerstört die Basis der europäischen Integration

Der Maßstab, mit dem Europas Scheitern gemessen wird, ist der gemeinsame Binnenmarkt. Frieden und Aussöhnung dank Handel und Wandel, das war die Grundidee Europas. Über einen gemeinsamen Markt mit gemeinsamen Regeln wollten sich die zerstrittenen Staaten Europas annähern, Wohlstand schaffen, friedlich leben. Weshalb die eigentliche Gefahr, die von deutschen Abschottungsversuchen, wallonischem Rebellentum und britischen Austrittsverhandlungen ausgeht, die ist, dass diese Basis der europäischen Integration sukzessive zerstört wird.

Bisher hat der Binnenmarkt alle Krisen der Europäischen Union überstanden. Sicher, die Abgesandten der Nationalstaaten haben nächtelang in Brüssel gestritten, und auch bisher schon haben Regierungschefs, darunter Bundeskanzlerin Merkel, per Telefonanruf in Brüssel ein Veto gegen Beschlüsse eingelegt, die wider nationales Interesse liefen. Aber im Grunde genommen hat die europäische Kompromiss- und Konsensmaschinerie funktioniert, hat niemand grundsätzlich an den Regeln gezweifelt, die sich die Nationalstaaten gegeben hatten.

Das ist vorbei, seit die Briten gehen wollen. Sie nehmen 60 Millionen der 500 Millionen Bürger mit - und spürbar Wirtschaftskraft. Sie lassen den Binnenmarkt schrumpfen.

Der Rückzug ins Nationale gefährdet den Wohlstand aller

Und inzwischen besteht die Gefahr, dass die Schrumpfung durch weitere Ereignisse eine gefährliche Dynamik entwickelt. Wenn die Europäer nicht in der Lage sind, ein Abkommen nach sieben Jahren Verhandlungszeit zu unterzeichnen, werden sie als internationale Handelspartner unglaubwürdig. Sie werden keine anderen Abkommen mehr verhandeln können, sie werden weniger Geschäfte machen, weniger Handel und Wandel treiben, weniger wohlhabend sein. Diese Entwicklung wird den Rückzug ins Nationale befördern, politisch wie wirtschaftlich. Ist es dann noch undenkbar, dass in Europa alte Zäune wieder aufgestellt werden könnten? Noch dazu, wo bestehende Schranken wie etwa im digitalen Handel noch nicht einmal abgeräumt sind?

Der deutsche Wirtschaftsminister ist besonders gefordert, diese Entwicklung zu verhindern. Statt viel Energie in kleinteilige Maßnahmen zum Schutze deutscher Firmen zu investieren, sollte sich Sigmar Gabriel nach Brüssel aufmachen. Er muss mit seinen europäischen Kollegen dringend klären, mit welcher Handelspolitik Europa auf die Herausforderungen der Globalisierung antworten will. Die Nationalstaaten müssen sich entscheiden, ob sie weiter nach den Regeln des freien Binnenmarkts spielen - oder sich künftig in Protektionismus flüchten wollen. Es wäre auch eine gute Gelegenheit, um die Regeln für Firmen-Übernahmen gleich europaweit zu klären.

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