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Welthandelsorganisation:Geliebt, verhasst, vergessen

Lesezeit: 6 min

Die Welthandelsorganisation WTO in Genf überwacht und regelt fast auf der ganzen Welt den Warenaustausch. Seit Jahren wird sie von Globalisierungskritikern bekämpft. Jetzt könnte ihr US-Präsident Donald Trump den Garaus machen.

Von Nikolaus Piper

Fast unschuldig kommt der Satz daher: "Die Regierung Trump wird die amerikanische Souveränität in Fragen der Handelspolitik entschlossen verteidigen." So steht es im jüngsten Bericht aus dem Büro des US-Handelsbeauftragten an den Kongress. Was das bedeutet, macht der Bericht auch klar, und das ist alles andere als unschuldig: Die USA werden sich nicht mehr ohne Weiteres den Regeln und Entscheidungen der Welthandelsorganisation (WTO) beugen. Und zwar dann nicht, wenn diese Regeln und Entscheidungen nach Meinung der Regierung den USA schaden.

Noch sind das nur Worte. Sollte aus den Worten aber praktische Politik werden, würde die Lage brandgefährlich. Donald Trumps Drohung, er wolle BMW bestrafen, sollten die Deutschen es wagen, wie geplant, Wagen der 3er Serie aus Mexiko in die USA zu importieren, wäre schlimm genug. Würden die USA jedoch die Legitimität der WTO in Zweifel ziehen oder die Organisation ganz verlassen, dann läge die liberale Weltwirtschaftsordnung der Nachkriegszeit in Trümmern, dann wäre auch die Pax Americana dauerhaft beschädigt.

Die WTO, gegründet vor knapp 23 Jahren auf einer internationalen Konferenz in Marrakesch, hat heute 164 Mitglieder und umfasst damit den größten Teil der Welt. Als vorerst letzter Staat ist am 29. Juli 2016 Afghanistan beigetreten. Am Sitz der Organisation in Genf arbeiten heute 640 Angestellte. Zum Vergleich: Beim Internationalen Währungsfonds (IWF) sind es 2 700. WTO-Generaldirektor ist seit 2013 der 59 Jahre alte brasilianische Diplomat Robert Azevêdo. Die Organisation sammelt Daten, überwacht die Handelspolitik der Mitgliedsstaaten und hilft ärmeren Ländern bei der Umsetzung von Handelsverträgen.

Der erste Versuch eines Handelsbündnisses scheiterte am US-Kongress

Und - vielleicht das wichtigste Instrument - sie verfügt über ein wirksames Verfahren zur Streitschlichtung. Würde US-Präsident Trump tatsächlich einen Strafzoll oder eine Steuer auf mexikanische BMWs verhängen, könnte die EU ein WTO-Schiedsgericht in Genf anrufen und bekäme vermutlich nach spätestens einem Jahr auch recht. Dann dürfte die EU ihrerseits Vergeltungszölle verhängen und zwar auf Exporte, bei denen es den USA besonders weh tut (etwa IT-Produkte). In der Regel enden solche Schiedsverfahren aber mit einer gütlichen Einigung. Allein die USA wurden bisher 129 mal verklagt, die EU 84 mal. Berühmt wurde der große Streit um die EU-Bananenordnung. Dabei verlangten Länder wie Costa Rica, Nicaragua und Guatemala gleichberechtigen Zugang zum europäischen Binnenmarkt. Nach 15 Jahren bekamen sie 2009 mit Hilfe der WTO recht.

Als Organisation ist die WTO machtlos. Anders als der IWF oder die Weltbank hat sie kein Geld zu vergeben, jedes Mitglied hat genau eine Stimme. Alles hängt davon ab, dass die großen Handelsmächte, also vor allem die USA und die EU, hinter der WTO stehen und sich ihren Schiedssprüchen beugen. Entfällt diese Voraussetzung, dann ist die WTO nicht viel mehr als ein schönes Bürogebäude aus den Zwanzigerjahren am Genfer See.

Kritik an der Organisation kam bisher meist von links. In einem Papier der Organisation Attac heißt es: "Die von der WTO rigoros betriebene Freihandelspolitik war und ist eine der wesentlichen Ursachen der globalen Ungleichgewichte und der globalen Krise." Gegenwärtig läuft eine Kampagne gegen das geplante Freihandelsabkommen für Dienstleistungen (Tisa), über das eine Gruppe WTO-Mitglieder unter großer Geheimhaltung berät.

Die Bedeutung der WTO lässt sich nicht ohne ihre Geschichte verstehen. Im Grunde wurde sie mit fast einem halben Jahrhundert Verspätung ins Leben gerufen. Alles begann mit der Weltwirtschaftskrise der Dreißigerjahre und ihren Verheerungen. Weitsichtigen Beobachtern war damals schon klar, dass die USA mit ihren Zollerhöhungen nach dem berüchtigten Smoot-Hawley-Gesetz von 1930 die Krise wesentlich verschärft hatten. Das sollte nie wieder passieren. US-Außenminister Cordell Hull schrieb damals: "Nationen können nie so viel produzieren, dass es für das Wohlergehen ihrer Bürger ausreicht, wenn sie nicht ausreichend Möglichkeiten zum gegenseitigen Handel haben. Und das ist nicht möglich in einer Welt extremer Wirtschaftsbarrieren, politischer Feindschaft und immer wiederkehrender Kriege." Diese Erkenntnis bestimmte die Politik von Präsident Franklin D. Roosevelt: Handel und Frieden bedingen einander, die USA haben ein Interesse daran, dass die anderen Länder wirtschaftlich Erfolg haben. Der "freie Zugang zum internationalen Handel" war auch Gegenstand der "Atlantik-Charta", die Roosevelt und Winston Churchill im August 1941 an Bord eines britischen Schlachtschiffes vereinbarten.

Krönung dieser Politik sollte eine Internationale Handelsorganisation (ITO) sein. Um diese zu gründen, trat im März 1948 in Havanna eine Handelskonferenz der Vereinten Nationen zusammen. Unter den 53 Teilnehmerstaaten waren auch solche aus der Dritten Welt (die damals noch nicht so hieß); einige waren gerade unabhängig geworden (Indien), andere kämpften noch darum (Indonesien). Am 24. März unterzeichneten die Teilnehmer die "Havanna-Charta" über die neue Organisation: Die ITO sollte über die Regeln des Welthandels wachen, Streitfälle schlichten und den Entwicklungsländern helfen.

Doch die ITO wurde nie gegründet. In den Vereinigten Staaten formierten sich mächtige Interessengruppen dagegen, dass sich die US einem multilateralen Handelsregime unterwerfen sollte. Die Historikerin Hildegard Brog zitiert einen charakteristischen Kommentar aus der Zeit: "Die Charta stellt einen weiteren Versuch von Ausländern dar, Uncle Sam etwas vor die Nase zu setzen." So etwas könnte heute auch aus dem Trump-Lager stammen. Schließlich lehnte es der US-Kongress ab, die Charta zu ratifizieren - eine schwere Niederlage für Präsident Harry Truman.

Trotz dieses Rückschlags fielen die USA damals nicht in den Isolationismus zurück. Das Ideal einer regelgebundenen Weltwirtschaftsordnung überlebte, unter anderem, weil es einen vorläufigen Ersatz für die ITO gab: Das Allgemeine Zoll- und Handelsabkommen (Gatt) war eigentlich nur als Provisorium gedacht, es war gar keine Organisation, sondern nur ein Bündel von bereits bestehenden Handelsverträgen, die von einem kleinen Sekretariat verwaltet wurden. Im Gatt gab es kein Streitschlichtungsverfahren, außerdem fehlten alle Hilfen für Entwicklungsländer, was dort viel Bitterkeit hinterließ.

Aber das Gatt hatte einen großen Vorzug. Es funktionierte nach den gleichen Prinzipien eines offenen Welthandels, wie das für die ITO vorgesehen war:

Alle Handelspartner mussten sich untereinander gleich behandeln (Prinzip der "Meistbegünstigung");

Ausländische und inländische Waren mussten gleichgestellt werden (Prinzip der "Inländerbehandlung");

Ein- und Ausfuhrkontingente waren verboten;

Zölle waren zwar prinzipiell erlaubt, durften aber, erst einmal eingeführt, nicht mehr erhöht werden.

Zudem bot das Gatt den Rahmen für insgesamt acht globale Zollsenkungsrunden, die in der Nachkriegszeit die Barrieren zwischen den Handelsnationen senkten. Die von den USA angestoßene "Kennedy-Runde" reduzierte zum Beispiel die Zölle für Industrieprodukte um 38 Prozent. Am wichtigsten jedoch war die "Uruguay-Runde". Sie begann am 19. September 1986 in Punta del Este (Uruguay) und endete 1994 in Marrakesch (Marokko) mit der Gründung der WTO, die die Funktionen des Gatt übernehmen sollte. Am 1. Januar 1995 begann die WTO in Genf mit der Arbeit. Von 1948 bis zu diesem Zeitpunkt hat sich der Welthandel versiebzigfacht; seit 1995 stieg er nochmals auf das Dreifache.

In der pittoresken Wüstenstadt Marrakesch war die Stimmung damals optimistisch: Der Kalte Krieg war seit fünf Jahren vorbei, in Washington regierte Bill Clinton, und die Präambel zu dem Vertrag versprach steigende Einkommen, nachhaltige Entwicklung und Schonung der Ressourcen dank wachsendem Welthandel.

Doch dieser Optimismus wurde nicht von allen geteilt. Linke, Umwelt- und Dritte-Welt-Gruppen, Nationalisten, einige Gewerkschaften, einige Industriegruppen und Bauernverbände betrachteten die WTO als neoliberales Monster. Am 30. November 1999 kam es zur Explosion. Proteste von Globalisierungskritikern gegen eine Ministerkonferenz der WTO in Seattle mündeten in dreitätige blutige Krawalle. Die Polizei meldete 92 Verletzte, darunter neun Sicherheitsleute und zehn Delegierte. Die Demonstranten fürchteten um die Umwelt, die Arbeitsplätze und die Arbeitsstandards in der Dritten Welt, sie wandten sich generell gegen die Globalisierung. In Frankreich wurde der Bauer José Bové zum Volkshelden, der aus Protest gegen die WTO ein Mcdonald's-Restaurant zerstörte.

Am 11. Dezember 2001 trat die Volksrepublik China der WTO bei. Das Ereignis wurde in Europa kaum wahrgenommen, bei der protektionistischen Rechten in den USA jedoch gilt dieser Beitritt als Sündenfall schlechthin. Der jüngste Bericht des US-Handelsbeauftragten an dem Kongress macht eine simple Rechnung auf: Im Jahr 2000, also vor Chinas Beitritt, verdiente ein mittlerer Haushalt in Amerika 57 790 Dollar (in heutigen Zahlen), 2015 waren es nur noch 56 615 Dollar. Schuld daran ist China, so insinuiert die Trump-Regierung.

Die WTO selbst verlor zuletzt zunehmend an Einfluss. Nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 beschlossen die Mitglieder noch eine neue Liberalisierungsrunde, die besonders armen Ländern helfen und so den Terrorismus bekämpfen sollte. Die Runde begann am 9. November 2001 in Doha, der Hauptstadt von Qatar. Doch die "Doha-Runde" ist bis heute nicht abgeschlossen, weil die Schwellenländer untereinander uneinig waren, und weil die Industrieländer das Interesse verloren. US-Präsident Barack Obama interessierte sich mehr für regionale Abkommen wie TPP mit den Pazifik-Anrainern und TTIP mit der EU.

Jetzt hat die WTO in Washington praktisch keine Freunde mehr. Nicht nur Donald Trump lehnt die Organisation ab, sondern auch der linke Senator Bernie Sanders aus Vermont, der selbst gerne Präsident geworden wäre. "Linke und Rechte sind gemeinsam dabei, die WTO sturmreif zu schießen", sagt düster ein Beamter des Bundeswirtschaftsministeriums.

Donald Trump unterdessen hat eine klare Strategie: Weg von multilateralen, hin zu bilateralen Handelsverträgen. Was das bedeutet, machte sein oberster Handelsberater Peter Navarro in dieser Woche am Beispiel Deutschland klar: Das bilaterale Defizit der USA mit Deutschland von 65 Milliarden Dollar sei "eines der schwierigsten Handelsthemen" überhaupt, sagte er zu Ökonomen in Washington. Die Deutschen hätten sich zu lange mit der EU und dem Euro herausgeredet. Jetzt wolle er "aufrichtige Gespräche" mit Deutschland, wie das Defizit zu reduzieren sei. Für die WTO ist dabei kein Platz, für die EU und für TTIP auch nicht. Und die Deutsche sollten sich auf hässliche Zeiten einstellen. Geopolitische Überlegungen spielen keine Rolle. Es geht nur noch um das kurzfristige materielle Eigeninteresse. Wenn eine Supermacht nur noch bilateral verhandeln will, dann baut sie darauf, dass sie immer gewinnt.

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Quelle:
SZ vom 11.03.2017
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