Süddeutsche Zeitung

Online-Handel:Wenn die Milch bis in den Kühlschrank geliefert wird

  • In vielen Ländern gibt es Versuche, den Milchmann wiederzubeleben: Milch und andere Lebensmittel werden bis vor die Haustür geliefert.
  • Der US-Konzern Walmart geht noch weiter: Ein Bote bringt das Essen bis in den Kühlschrank des Kunden - und wird dabei per Kamera überwacht.

Von Claus Hulverscheidt

In einer Zeit, da das Smartphone ständig brummt und bimmelt, weil wieder eine Kurznachricht oder eine "Freundschaftsanfrage" eingegangen ist, kann man sich kaum noch vorstellen, dass der Klang einer Handglocke für viele Menschen einst zu den Höhepunkten des Tages zählte. Wenn sie ertönte, dann hieß das über Jahrzehnte: Der Milchmann ist da. Lieder und Filme wurden dem Mann mit der Schirmmütze und der weißen Kitteljacke gewidmet, Kinderbücher geschrieben, Psychopathen nach ihm benannt - bis er langsam aus dem Alltagsleben verschwand. Die Pasteurisierung, das Auto und die Entstehung immer weitläufigerer Vorstädte machten die tägliche Milchlieferung überflüssig oder aber zu teuer.

Erst seit dem Erfolg des Online-Handels gibt es in vielen Ländern Versuche, den Milchmann wiederauferstehen zu lassen, doch niemand ist dabei je so weit gegangen wie jetzt der US-Konzern Walmart: Vom Herbst an will der Supermarktriese zunächst in Kansas City, Pittsburgh und Vero Beach in Florida Milch, Joghurt, Eier und andere Lebensmittel bis in den heimischen Kühlschrank liefern - und zwar auch dann, wenn der Kühlschrankbesitzer gar nicht zu Hause ist.

Möglich macht das eben jenes Smartphone, das ständig brummt und bimmelt. Steht der Milchmann vor dem Haus, erhält der Kunde eine Nachricht aufs Handy und erlaubt dem Boten per App, das elektronische Schloss der Wohnungstür zu öffnen. Gleichzeitig geht die Kamera an, die der Lieferant am T-Shirt trägt und die seinen Weg durch die Wohnung verfolgt. Der Besteller kann so über den Telefonbildschirm jeden Schritt des Joghurt-Boten beobachten und sicherstellen, dass dieser auf dem Rückweg zur Haustür nicht die Juwelen der Großmutter oder die Armbanduhr auf dem Nachttisch einsackt.

Nicht jeder darf Milchmann werden

Diese Dauerüberwachung ist nicht die einzige Maßnahme, mit der Walmart Käufern die Scheu vor dem neuen Dienst "InHome" nehmen will. Jeder Bote muss mindestens ein Jahr lang ohne Beanstandung im örtlichen Supermarkt angestellt gewesen sein, bevor er sich an Kunden-Kühlschränken zu schaffen machen darf, zudem verschickt der Konzern Kurzbiografien, damit der Besteller den Menschen "kennt", der da durch sein Haus geistert. Marc Lore, E-Commerce-Chef bei Walmart USA, räumt ein, dass sich mancher Testkunde mit dem neuen Dienst dennoch zunächst schwergetan habe. Genauso aber, wie viele längst kein Problem mehr damit hätten, Zimmer ihres Hauses etwa über Airbnb zu vermieten, hätten sie sich rasch an den Milchmann gewöhnt, sagte er dem Wall Street Journal.

In Deutschland, so darf man vermuten, stieße ein solches Angebot auf deutlich mehr Skepsis als in den technik- und dienstleistungsverrückten USA. Völlig abwegig aber erscheint die Idee auch hierzulande nicht, wenn man Frederic Knaudt glauben darf, der mit seiner Firma Picnic mittlerweile mehr als 20 000 Kunden in der Bundesrepublik mit Lebensmitteln beliefert - allerdings in der Regel nur bis zur Haustür. Manche Kunden aber, so berichtete Knaudt vor ein paar Wochen, vertrauten "ihrem" Boten bereits so sehr, dass sie ihm von unterwegs eine Whatsapp-Nachricht schrieben: "Ich schaffe es heute nicht. Der Schlüssel liegt unter der Matte."

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SZ vom 13.06.2019/vwu
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