Süddeutsche Zeitung

Versicherungswirtschaft:Zündeln gegen die Feuersbrunst

Lesezeit: 4 min

Wirbelstürme, Über­flutungen und Brände werden immer heftiger, die Schäden steigen. Der US-Versicherer FM Global erforscht, wie sich Firmen besser schützen können.

Von Claus Hulverscheidt, West Glocester

Kein Laut ist zu hören in den Wäldern Rhode Islands, als die beiden Männer mit Helmen und Schutzbrillen ihr pechschwarzes Ungetüm an diesem Novembermorgen in Stellung bringen. Das mächtige, leicht nach oben geneigte Kanonenrohr misst vom Verschluss bis zur Mündung satte drei Meter, allein der Anblick hätte in früheren Jahrhunderten gereicht, um ein feindliches Heer in die Flucht zu schlagen. "Lädt!", ruft einer der Männer, dann drückt er den Auslöser: "Feuer!" Ein langes, kräftiges Kantholz schießt aus dem Lauf und bohrt sich sieben, acht Meter weiter tief in ein mit Sperrholz verrammeltes Fenster. Hätte im echten Leben jemand auf der anderen Seite gestanden, er wäre jetzt wohl schwer verletzt oder gar tot.

Zum Glück ist es nicht das echte Leben, sondern nur ein Versuch im Forschungszentrum des US-Versicherers FM Global. Mit der Druckluftkanone lässt sich simulieren, mit welch ungeheurer Kraft tropische Wirbelstürme Äste oder losgerissene Fassadenteile in potenziell tödliche Geschosse verwandeln können. Die gut ein Zentimeter dicken Sperrholzplatten, mit denen Amerikaner bei einem nahenden Hurrikan gerne die Fenster ihrer Häuser und Lagerhallen verrammeln, wären in diesem Fall nicht ausreichend gewesen. Stattdessen hätte man zwei Platten voreinander schrauben müssen, wie der nächste Versuch zeigt: Diesmal prallt das Kantholz ab wie an einer Gummiwand. "Manchmal ist es gar nicht so schwer, sich zu schützen", sagt Joel Stoklosa, der durch das Forschungszentrum führt. "Man muss nur wissen wie."

Mit 5,7 Milliarden Dollar Jahresumsatz und Kunden in fast 150 Ländern, allein 900 davon in Deutschland, ist FM Global einer der bedeutendsten Industriesachversicherer der Welt. Auch andere Branchengrößen wie AIG, Zurich und Axa beackern den Markt, in einem Punkt jedoch unterscheidet sich FM grundlegend von ihnen: Während es bei den Wettbewerbern vor allem Versicherungsmathematiker sind, die vom Schreibtisch aus einzelne Risiken und die daraus abzuleitenden Prämienzahlungen der Kunden kalkulieren, beschäftigt der Konzern aus Johnston vor den Toren Bostons weltweit 1800 Ingenieure, die Kunden besuchen, in deren Fabriken und Lagerhallen nach Schwachstellen beim Katastrophenschutz suchen und konkrete Verbesserungsvorschläge unterbreiten.

Der beste Schaden ist der, der dank technischer Vorkehrungen gar nicht erst entsteht: Diese Idee steht im Mittelpunkt der Firmenphilosophie von FM Global, seit der Textilfabrikant Zachariah Allen aus Rhode Island 1835 beschloss, die dauernden Feuersbrünste in den Werkstätten seiner Zeit nicht länger als gottgegeben hinzunehmen. Er traf Vorkehrungen, um Brände einzudämmen oder ganz zu verhindern - und bat dann seine Assekuranz um eine Prämiensenkung. Der Versicherer lehnte ab und stellte sich damit selbst ein Bein: Allen sammelte gleichgesinnte Fabrikanten um sich und gründete mit ihnen die Gruppe der "Factory Mutuals" (FM), einen Versicherungsverein auf Gegenseitigkeit, in dem Unternehmer mit ausschließlich "guten Risiken" bei Sachschäden füreinander einstehen. Auch heute noch, zahllose Fusionen später, sind die Versicherungsnehmer zugleich die Eigentümer von FM Global. Sie profitieren von niedrigeren Prämien oder einer höheren Deckung und von der Rückzahlung überschüssiger Einnahmen.

Vor allem aber profitieren sie vom technischen Knowhow, das der Konzern in fast zwei Jahrhunderten angesammelt hat und das er bis heute täglich im Forschungszentrum in West Glocester bei Providence generiert. 800 Brände werden hier pro Jahr gelegt, 250 Mal bebt die Erde, 150 Mal fliegt irgendetwas in die Luft. "Das ist die größte Einrichtung zur Zerstörung von Vermögen weltweit", scherzt Konzernsprecher Steve Zenofsky. Man könnte auch sagen: Die FM-Ingenieure zündeln, schießen und sprengen, um Feuer, Zerstörung und Explosionen zu verhindern.

140 Menschen arbeiten auf dem Campus im Nirgendwo, auf einem Gelände so groß wie 850 Fußballfelder. Der Bau der Hallen und Laboratorien hat über die Jahrzehnte 125 Millionen Dollar an Investitionen verschlungen. Das Labor für Naturkatastrophen etwa kann Wind in Hurrikanstärke und Hagelstürme simulieren. Ein garagengroßer "Shake Table", eine Erdbebenversuchsanlage, lässt Regale umkippen und Gasleitungen bersten. Nebenan, in einer Art Betonsilo von der Größe eines kleinen Hauses, werden Schutzmaßnahmen gegen Staubexplosionen erforscht. Mal ist es Mehl-, mal Kakao-, mal Aluminium-, mal Plastikstaub - ein Funke genügt, und das Gemisch entlädt sich mit ohrenbetäubendem Knall in einem zehn Meter hohen Feuerball. Dabei könnten Firmen, die mit solchen Stäuben hantieren, oft ganz einfach Abhilfe schaffen, etwa durch die Erdung statisch aufladbarer Gegenstände - oder schlicht durch mehr Sauberkeit.

Einige Hundert Meter weiter, in der baumarktgroßen Brand-Versuchsanlage, haben Arbeiter zwei eiserne Hochregale aufgebaut, je 72 große Pappkartons stehen in vier Etagen darauf. Darüber schwebt eine riesige Dunstabzugshaube, die groß genug wäre, um alle Fernsehköche Deutschlands unter ihr zu versammeln. Dann setzt ein Feuerwehrmann mit Schutzanzug, Atemmaske und Gasflasche die Regale in Brand. Schon nach einer Minute züngeln die Flammen sieben, acht Meter hoch, kurz darauf hat sich das linke Regal in eine turmhohe, mehr als 900 Grad heiße Feuerwand verwandelt. Nach sieben Minuten - das ist in den USA die durchschnittliche Zeit, bis die Feuerwehr eintrifft - ist alles zerstört.

Stürme, Fluten und Feuer werden immer heftiger

Ganz anders rechts, wo die Hitze eine hochmoderne Sprinkleranlage in Gang gesetzt hat, die die Kartons gezielt so durchnässt, dass das Feuer keine Nahrung mehr findet. Während die FM-Feuerwehrleute links schon dabei sind, die Flammen mit Hilfe von riesigen Schläuchen zu löschen, stirbt das Feuer nebenan ohne menschliches Zutun einen raschen, schmählichen Tod. Ganze zehn, zwölf Kartons sind am Ende in Mitleidenschaft gezogen worden, die Halle wäre im Ernstfall nicht abgebrannt, sondern nach zwei, drei Stunden Aufräumarbeit wieder voll funktionsfähig gewesen.

Exakt darum geht es: "Wir können nicht jede Katastrophe verhindern", sagt Sprecher Zenofsky. "Wir können aber verhindern, dass sie für ein Unternehmen zum Desaster wird." Das ist für Firmen und Versicherer auch deshalb so bedeutsam, weil Stürme, Fluten und Feuer wegen des Klimawandels immer heftiger, die Lagerhallen immer größer, die Hochregale immer höher, die gefährdeten Gebiete, in die Menschen und Betriebe ziehen, immer zahlreicher werden. Wer wollte nicht am Fluss, am Meer, am Waldesrand residieren?

Als etwa 2016 ein Waldbrand in der kanadischen Stadt Fort McMurray 100 000 Einwohner zur Flucht zwang und Schäden von drei Milliarden Dollar hinterließ, waren die betroffenen Versicherer völlig perplex: Ihre Mathematiker hatten eine solche Katastrophe schlicht für unmöglich gehalten.

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Quelle:
SZ vom 01.12.2018
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