Süddeutsche Zeitung

SZ-Salonfestival:Wagenknecht und die "Lifestyle-Linken"

Lieber die soziale Frage stellen statt über Identitätspolitik debattieren? Im digitalen Salon reflektiert Sahra Wagenknecht, wie linke Parteien ihr Stammpublikum zurückgewinnen können. 

Von Berit Kruse

Ihr Buch, ihren Gegenentwurf "Die Selbstgerechten", habe sie geschrieben, weil sie umtreibe, dass linke Parteien immer schwächer werden, erklärt Sahra Wagenknecht beim digitalen Salon von Süddeutscher Zeitung und Salonfestival. Ihr, die aus denselben Motiven schon die überparteiliche Initiative "Aufstehen" gegründet hat, kauft man diese Haltung ab. Linke, so Wagenknecht, haben sich "von denen entfremdet, für die sie da sein sollten". Statt sich für die Arbeiterklasse einzusetzen, bedienten sie heute die akademische Mittelschicht. Ein Klientel, das 2021 den Grünen gehören dürfte.

Links, kritisiert Wagenknecht, sei "unsympathisch geworden", schuld an fast allem Übel seien Linksliberale, die sie "Lifestyle-Linke" nennt. Links sei heute Synonym für akademische Debatten, für Bevormundung in Essens- und Sprachfragen. "Menschen wollen aber nicht erzogen werden", sagt sie - womit sie zumindest teilweise recht haben dürfte, lehnt doch eine Mehrheit der Deutschen aktuell gendergerechte Sprache ab. Wagenknecht wurde zwar mit 61 Prozent Zustimmung zur Spitzenkandidatin in Nordrhein-Westfalen gewählt, aber nicht wenige in ihrer Partei fordern ihren Rücktritt. Laut Spiegel liegt seit Mittwoch sogar ein Antrag auf ein Parteiausschlussverfahren vor, Mitglieder argumentieren mit dem "schweren Schaden", den sie der Partei zufüge. Neue Anhänger hat Wagenknecht woanders gefunden, zeigt sich im Salon: Ihre Haltung lädt Personen ein, die "die Linke nie gewählt hätten", wie Besucher betonen, die "Wagenknecht aber lieben", ihretwegen gar der Linkspartei beigetreten seien.

Wagenknecht betont, dass eine Links-Rechts-Taxonomie nicht zeitgemäß sei, man Argumente vielmehr danach bewerten sollte, ob sie schlüssig sind. So weit, so nachvollziehbar. Wer an Argumenten gemessen werden möchte, sollte jedoch auch selbst stets mehr liefern als anekdotische Evidenz. Wagenknecht berichtet zu Migrationsfragen, einwanderungskritisch seien vor allem ärmere Menschen, die in denselben Vierteln leben wie Migranten - gleichzeitig ist Rassismus vor allem dort präsent, wo kaum Ausländer leben. Ihre Kritik an Poststrukturalismus fußt auf dem Glauben, Linksliberale meinten, "allein Sprache verändere die Welt". Dabei dürften auch die von ihr dämonisierten "Lifestyle-Linken" zustimmen, dass die Emanzipation der Frau kein einzig mit Gendersternchen gepflasterter Weg ist, sondern vielen Maßnahmen bedarf.

Letzten Endes würde es vermutlich beiden Lagern in der Linken helfen, weniger über Identitätspolitik zu streiten: An diesen Debatten haben sie immerhin schon ihren wichtigsten Finanzpolitiker de Masi verloren. Dabei dürfte es sie noch geben, die kleinsten, gemeinsamen, linken Nenner: die Antwort auf die soziale Frage als Kern linker Politik, Gleichberechtigung, der von Wagenknecht vermisste Gemeinsinn. Linksliberale diskutierten schon in den Neunzigern die Dreifachunterdrückung durch "Race, Class und Gender", und damit die Gleichzeitigkeit von Problemen. Realo-Linke und Liberale könnten die soziale Frage also durchaus mit identitätspolitischen Debatten vereinen. Wer aber Wagenknecht zuhört, und welche Folgen es hat, dass sie mit ihren Angriffen auf "Lifestyle-Linke" auch Teilen der Partei ihre politische Heimat nimmt, wird sich zeigen - vielleicht in einem Parteiausschlussverfahren, spätestens aber bei der Bundestagwahl.

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