Waffenindustrie:Warum sich die Waffenkultur der USA auch nach Orlando nicht ändern wird

Factory engraved Colt revolvers are displayed at venue for NRA meeting, in Houston, Texas

Eine Ausstellung während des jährlichen Treffens der Waffen-Lobbyorganisation NRA in Houston im Bundesstaat Texas zeigt Colt-Revolver aus den Jahren 1873 bis 1940.

(Foto: Adrees Latif/Reuters)

Nach Attentaten und Massenschießereien steigen in den USA die Verkaufszahlen von Gewehren und Pistolen. Davon profitieren auch deutsche Hersteller.

Von Claus Hulverscheidt und Uwe Ritzer

Die Besucher aus dem fernen Australien konnten ihr Glück kaum fassen. Vermutlich hatten sie nur nach Milch und Cornflakes gesucht, als sie gleich hinter den Kühltaschen und den Sonnenschirmen urplötzlich das Paradies entdeckten: Gewehre, Schrotflinten, Pistolen, dazu Springmesser, Steinschleudern und reichlich Munition. "Wir haben uns gefühlt wie Kinder im Bonbon-Geschäft", schrieb einer der harten Jungs, nachdem er das Video ihres Besuchs bei Walmart ins Internet gestellt hatte. "Waffen im Supermarktregal - das ist echt das Beste an Amerika."

Was in Deutschland wie ein Witz klingt, ist in den USA Normalität. Allein Walmart bietet in mehr als 2000 seiner Märkte Revolver und Büchsen an, der Kaufhaus-Konzern ist damit zugleich größter Waffenhändler des Landes. Das Geschäft floriert, und auch wenn das niemand laut sagen würde: Rein betriebswirtschaftlich gesehen war der 12. Juni 2016, der Tag, an dem ein mutmaßlicher Schwulenhasser in einem Nachtclub in Orlando 49 Menschen erschoss, für die Branche ein guter Tag.

Allein in diesem Jahr gab es nach Angaben des Archivs für Waffendelikte in den USA bisher 19 Amokläufe, Schießereien und Terrorattacken, bei denen mindestens drei Menschen getötet wurden - Männer, Frauen, kleine Kinder. Doch der Effekt ist nicht etwa der, dass die Amerikaner in sich gehen und die Finger von Feuerwaffen lassen. Im Gegenteil: Nach jedem "mass shooting" steigen die Verkaufszahlen rapide an - und mit ihnen die Aktienkurse der Hersteller.

Der Samstag nach einem Massaker Ende 2012 war außergewöhnlich ertragreich

Ein besonders erschütterndes Beispiel für den makabren Mechanismus ist das Massaker an der Sandy-Hook-Grundschule am 14. Dezember 2012. Damals tötete ein Ex-Schüler 20 Kinder im Alter von sechs und sieben Jahren, dazu sechs Lehrerinnen. Der Tag darauf, passenderweise ein Samstag, gilt unter US-Waffenhändlern bis heute als einer der ertragreichsten aller Zeiten: Schätzungen zufolge gingen binnen weniger Stunden gut 120 000 Gewehre und Pistolen über die Ladentheken.

Auch Terrorattacken im befreundeten Ausland fördern das Geschäft: Seit den Anschlägen von Paris im letzten November etwa haben Monat für Monat über zwei Millionen US-Bürger jenen Sicherheitscheck beim FBI beantragt, der Voraussetzung für den Erwerb einer Waffe ist. Nicht alle derer, die das Führungszeugnis vorliegen haben, kaufen anschließend auch sofort eine Pistole. Der Trend aber ist eindeutig.

Die großen US-Hersteller sind Nutznießer der Paranoia

Und noch einen Absatztreiber gibt es: Barack Obama. Die Sorge vieler Menschen, der nächste Präsident könne auch nur ein Komma am Recht auf Waffenbesitz ändern, führte schon vor seinen beiden Wahlsiegen 2008 und 2012 zu kräftig steigenden Verkäufen. Da zeitweise die Wirtschaft lahmte und die Kriminalität stieg, wird der erste schwarze Präsident des Landes zugleich als derjenige in die Geschichte eingehen, während dessen Amtszeit so viele Waffen verkauft wurden wie nie zuvor.

Zu den Nutznießern der Paranoia gehören neben den großen US-Herstellern wie Smith & Wesson, Ruger und Remington auch deutsche und österreichische Waffenschmieden, darunter Heckler & Koch, SIG Sauer, Blaser und Anschütz sowie Glock. Ein Drittel der 16 Millionen Waffen, die 2013 neu auf den amerikanischen Markt kamen, wurden importiert. Nummer zwei unter den Lieferländern war Österreich, Nummer drei Deutschland. Auch Omar Mateen, der Attentäter von Orlando, entschied sich für Qualitätsprodukte aus Europa: das deutsche Gewehr SIG Sauer MCX und die Pistole Glock 17 aus Österreich.

"Vor allem bei Munition gab es regelrechte Hamsterkäufe"

Fabrikate aus beiden Ländern gelten als besonders zuverlässig, präzise und sauber verarbeitet. Weltweit genießen sie daher einen guten Ruf, nicht nur bei Jägern und Sportschützen, sondern auch bei Terroristen und Amokläufern.

Dass zumindest die großen unter den 1200 deutschen Waffen- und Munitionsfabrikanten von den Absatzsprüngen nach "mass shootings" profitieren, bestreitet die Branche nicht einmal. "Vor allem bei Munition gab es regelrechte Hamsterkäufe", berichtete im Jahr 2014 Klaus Gotzen, der Geschäftsführer des Branchenverbands JSM. Viele deutsche Hersteller fuhren damals die Produktion hoch, manche Büchsenmacher arbeiteten zeitweise im Drei-Schicht-Betrieb.

Entsprechend groß ist aus Sicht von Kritikern die Verantwortung, die insbesondere Ron Cohen, der Chef von SIG Sauer USA, und sein österreichischer Kollege Gaston Glock tragen. "Wie lange wollen die beiden das Sicherheitsrisiko, das ihre Exporte aus einer stark regulierten in eine 'Feuer-frei'-Zone birgt, eigentlich noch ignorieren?", fragt Joe Morris, Organisator des Bündnisses "Steh nicht untätig daneben".

Ein Drittel der deutschen Gesamtproduktion von Kleinwaffen ging ins Ausland

Die Gruppe wirbt dafür, dass US-Großkunden wie Armee und Polizei künftig sogenannte intelligente Waffen ordern, um die Hersteller zu einem Strategiewechsel zu zwingen. Solche Waffen funktionieren nur, wenn der Besitzer sich vorab per Code oder Fingerabdruck identifiziert hat. Tragische Unfälle könnten so verhindert werden, auch Waffen-Diebstähle verlören an Reiz. "Wenn Herr Cohen, Herr Glock und andere Chefs hier vorangingen, könnten sie viele Menschenleben retten", sagt Morris.

Doch Cohen und Glock gehen nicht voran, im Gegenteil: Der Auftragsschub aus den USA ist ihnen mehr als willkommen, denn seit Verhängung der EU-Wirtschaftssanktionen gegen Russland 2014 hat die Branche ein Fünftel ihrer Ausfuhren eingebüßt. Wie exportabhängig sie ist, zeigen Zahlen der Bundesregierung: Demnach gingen 2015 Kleinwaffen und Munition im Wert von 64 Million Euro ins Ausland - gut ein Drittel der Gesamtproduktion. Größter Abnehmer nach den Niederlanden, Katar und der Schweiz: die Vereinigten Staaten.

Fünfmal so viele Waffengeschäfte wie Starbucks-Filialen

Gut 300 Millionen Feuerwaffen gibt es Schätzungen zufolge in den USA. Im Durchschnitt verfügt also jeder Amerikaner über mindestens ein Gewehr oder eine Pistole, vom Baby bis zum Greis - manchmal im Wortsinne. So wie am 30. Dezember 2012, als Veronica Rutledge mit ihrem Sohn und drei kleinen Nichten einen Supermarkt in Idaho betrat, den Buben in einen Einkaufswagen setzte und die Handtasche neben ihm ablegt. Kurz darauf war die junge Mutter tot: Der Zweijährige hatte in der Tasche gekramt, die Pistole entdeckt und versehentlich abgedrückt.

Nach Angaben des Datendienstes Statista geben die US-Verbraucher 6,5 Milliarden Dollar pro Jahr für Gewehre, Revolver und das entsprechende Zubehör aus. Vier von zehn Haushalten sind mit Feuerwaffen bestückt, je älter die Menschen sind, desto mehr glauben sie, nicht ohne auskommen zu können. 55 400 lizenzierte Händler im ganzen Land bringen das Schießgerät an den Mann und zunehmend auch die Frau. Rein rechnerisch kommen auf eine Filiale des omnipräsenten Kaffeerösters Starbucks fünf Waffengeschäfte.

Politiker, die auf Linie sind, erhalten von der NRA viel Geld

Allein 2014 starben im Land gut 33 000 Menschen durch Feuerwaffen, das sind 90 pro Tag. 31 von einer Million Menschen werden jährlich mit Pistole oder Gewehr ermordet. In Deutschland sind es zwei. Dennoch unternimmt die NRA, die mächtige Vereinigung der Waffenbefürworter, alles, um selbst kleinste Korrekturen am Recht auf Waffenbesitz zu verhindern.

Politiker, die auf Linie sind, erhalten viel Geld, Gegner werden als "Nazis" beschimpft oder als Dummköpfe herabgewürdigt. Waffenkontrolle, so die NRA, bedeute, die "guten Jungs" den "bösen Jungs" schutzlos auszuliefern. Letztere kämen schließlich über den Schwarzmarkt weiterhin an Schießgerät. Auch deutsche Hersteller spenden eifrig an die Ultra-Hardliner, wie Recherchen der SZ schon vor zwei Jahren ergaben.

Dank der NRA konnte sich auch Orlando-Attentäter Mateen ganz legal mit Waffen eindecken - und das, obwohl er zeitweise auf der Terrorprüfliste der Bundespolizei FBI gestanden hatte. Die Behörden hätten ihm deshalb theoretisch Flugreisen untersagen dürfen, nicht jedoch den Kauf eines Gewehrs oder einer Pistole. Eine Gesetzesinitiative, dies zu ändern, war im vergangenen Dezember am Widerstand der republikanischen Kongressmehrheit gescheitert.

Das Land wird nicht abrüsten

Am 1. Juni, elf Tage vor der Katastrophe von Orlando, hatte ein namhafter Waffenkontrollexperte bei einer Bürgerfragestunde in Elkhart im Bundesstaat Indiana eindringlich vor den Folgen des NRA-Einflusses gewarnt. Wenn sich nichts ändere, so der Fachmann, werde eines Tages ein amerikanischer IS-Anhänger, der auf der Prüfliste des FBI stehe, in einen Laden marschieren, so viele Waffen kaufen, wie er wolle, und was auch immer damit anstellen. Wäre die Sache nicht so unendlich traurig, müsste man die prophetische Gabe des Sachverständigen in der Rückschau bewundern. Sein Name: Barack Obama.

Und doch kann die Waffenindustrie frohlocken, denn wer auch immer Obama nachfolgt: Das Land wird nicht abrüsten. Sollte Hillary Clinton Präsidentin werden, werden die Verkäufe aus Furcht vor Gesetzesänderungen erneut enorm steigen.

Und ihr republikanischer Rivale Donald Trump hat bereits deutlich gemacht, was aus seiner Sicht in Orlando schief lief: Hätten außer dem Attentäter auch einige der Nachtclub-Besucher Waffen bei sich gehabt, so Trump, wäre die Sache zwar immer noch schrecklich ausgegangen, "aber es hätte nicht so ein Blutbad gegeben." Das Problem war also nicht, dass mit der SIG Sauer MCX und der Glock 17 zu viele Waffen im Raum waren. Es waren zu wenige.

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