Gasnetz:In Mannheim entscheidet sich die Zukunft der Wärmeversorgung

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2035 will Mannheim das Gasnetz stillegen. (Foto: MVV Energie)

Als eine der ersten Städte in Deutschland stellt Mannheim das Gasnetz ab. Für die Bewohner bedeutet das: Die Gasheizungen müssen raus. Über ein Experiment, das bald zum Normalfall werden könnte – selbst mit einem Kanzler Merz.

Von Tobias Bug und Nakissa Salavati, Mannheim

Jörg Fischer hatte sich das alles anders vorgestellt. Seine Idee war: „Jetzt habe ich 25 Jahre lang Ruhe.“ So lange sollte seine neue Gasheizung halten, vor etwas mehr als einem Jahr erst hat der Mannheimer sie im eigenen Haus einbauen lassen. Kurz bevor das Heizungsgesetz 2024 in Kraft getreten ist also, das Deutschland klimafreundliches Heizen verordnet und vorschreibt, dass ein Heizsystem überwiegend klimafreundlich sein muss. Der Einbau einer neuen Gasheizung ist zwar weiterhin erlaubt, sie muss aber theoretisch mit Wasserstoff laufen können.

Nun, die Idee ging nicht auf, Ruhe hat Fischer nicht. Denn er hat die Rechnung ohne MVV Energie gemacht. Der Energieversorger in Mannheim will 2035 das Gasnetz stilllegen. Das Stadtgebiet wird dann nicht länger mit Erdgas versorgt, und die Heizung von Jörg Fischer wird wert- und nutzlos. Nach nur zwölf Jahren.

Jörg Fischer ist Eigentümer in Mannheim. (Foto: Tobias Bug)

Hier in Mannheim zeigt sich, wie die Zukunft der Wärmeversorgung in Deutschland aussehen wird, welche Probleme sich ergeben und welche Lösungen. Wie man Bewohnerinnen und Bewohnern den Wandel erklären muss – oder müsste. Denn dass etwas passieren muss, ist ausgemacht: Ein Drittel aller CO₂-Emissionen in Deutschland entstehen, weil Gebäude geheizt und gekühlt werden. Um nicht gegen deutsche und europäische Klimavorschriften, ja sogar das eigene Grundgesetz zu verstoßen, muss Deutschland in 20 Jahren fossilfrei heizen. Auch ein möglicher Bundeskanzler Friedrich Merz müsste dies angehen, selbst wenn er Regelungen wie das Heizungsgesetz erneut ändern will.

Mannheim hat sich früh dazu entschieden, etwas zu unternehmen. Andere Kommunen müssen aber ebenfalls prüfen, welche Art der Wärmeversorgung künftig noch sinnvoll ist. Und ob es sich für die Energieanbieter, die oft auch Netzbetreiber sind, lohnt, die Erdgasversorgung im Ort aufrechtzuerhalten. Der Thinktank Agora Energiewende hat in einer Studie eine grundsätzliche Antwort gegeben: Selbst wenn man das deutsche Gasnetz wie geplant auf Wasserstoff umrüstet, um die energieintensive Industrie zu versorgen, sinke der Bedarf an Netzen bis 2045 um mehr als 90 Prozent. Die Infrastruktur trotzdem für wenige Haushalte mit Erdgasheizung aufrechtzuerhalten, wäre wahnsinnig teuer, für die Netzbetreiber, die oft auch die Energieversorger sind. Und für die Bürger, die das Erdgas nutzen.

Erdgas hat keine Zukunft, warum also warten?

Georg Müller, Chef von MVV Energie, sitzt in einem Meetingraum auf der Vorstandsetage der Unternehmenszentrale. Er nimmt sich Zeit, den Gasausstieg zu erklären. Ursprünglich habe man die Option geprüft, auf Wasserstoff oder Biomethan zum Heizen umzusteigen, dafür hätte man dann das Gasnetz nutzen können. Doch beides wird mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht ausreichend und günstig verfügbar sein. „Wir sind jetzt klüger und sagen, weil Wasserstoff und Biomethan keine Option sind, brauchen wir langfristig auch kein Gasverteilnetz mehr“, sagt er. MVV erfülle zudem, was die EU sowieso verlangt: dass Netzbetreiber einen Plan erarbeiten, wie die eigenen Gasnetze schrittweise stillgelegt werden. „Wir wollten uns nicht in fünf Jahren vorwerfen lassen, dass wir das schon 2024 wussten, es aber nicht deutlich gesagt hätten“, sagt Müller.

Von hier oben sieht man vor sich die Stadt, die Hochhäuser am Rhein, die gleichmäßigen Blöcke der Quadratstadt. Dort unten hat es eine Menge Aufruhr gegeben, als die MVV ihre Entscheidung im vergangenen November in der lokalen Presse, über den Rundfunk, im Fernsehen und in Bürgerveranstaltungen verkündet hatte. In einer Zuschrift an den Mannheimer Morgen klagte ein Leser, es könne nicht sein, dass die Bürger vor vollendete Tatsachen gestellt werden, ohne dass ihnen realistische Alternativen geboten würden. Ein anderer Leserbriefschreiber fand den Beschluss der MVV „an Dreistigkeit nicht zu überbieten“. Müller selbst bekam einzelne Zuschriften, alle wurden beantwortet, einige davon auch von ihm persönlich, sagt er. Keiner müsse sofort seine Gasheizung abstellen. Die Ankündigung sei an alle gerichtet, die sich jetzt entscheiden müssen, deren Heizung defekt ist oder die ein Haus bauen.

Die große Frage ist: Was ist die Alternative zum Erdgas? Die oft diskutierte Wärmepumpe ist eine. Berechnungen zeigen, dass sich die Geräte im Vergleich zur Gasheizung auszahlen, auch wenn die Anschaffung teuer ist. Auch Jörg Fischer sagt, er habe darüber nachgedacht, sich eine Wärmepumpe installieren zu lassen. Aber auf dem Dach und im Keller ist wenig Platz, er hätte ein separates Häuschen für die Pumpe gebraucht und Leitungen über den Hof verlegen müssen. 65 000 Euro hätte all das gekostet, mit der Förderung aus dem Gebäudeenergiegesetz hätte er 35 000 Euro davon selbst bezahlen müssen. Auch deshalb entschied sich Fischer für die Gasheizung, die ihn – zumindest in der Anschaffung – bloß 18 000 Euro kostete.

Die Wärmepumpe soll in Mannheim gar nicht die herausragende Rolle spielen, die eigentliche Alternative ist eine andere: die Fernwärme. Schon heute werden damit 60 Prozent des Wärmebedarfs der Stadt gedeckt, diesen Anteil will MVV bis 2035 auf 75 Prozent erhöhen. Dabei ist Fernwärme nicht gleich klimafreundlich. Bis vor fünf Jahren wurde sie in der Stadt komplett fossil erzeugt, nun nutzt MVV zum Beispiel die Abwärme aus einer Müllverbrennungs- und einer Recyclinganlage und eine Flusswärmepumpe im Rhein. Bis 2030 soll dann die komplette Fernwärme klimafreundlich sein und aus weiteren Flusswärmepumpen, aus Tiefengeothermie und industrieller Abwärme stammen.

Wer wie MVV Fernwärme ausbaut, muss oft Milliarden Euro investieren, die Straßen aufreißen und die breiten Rohre verlegen, durch die das warme Wasser fließt. Und dann hat Fernwärme in Deutschland noch ein anderes Problem: Die Versorgung ist je nach Anbieter vergleichsweise teuer, Preiserhöhungen sind häufig undurchsichtig. Auch den Neuanschluss müssen Kunden bezahlen. MVV verlangt wegen höherer Kosten von 2026 an rund 9400 Euro, 3000 Euro mehr als bisher.

Wie wichtig Timing und Glaubwürdigkeit sind, hat die Debatte der vergangenen Jahre um das Heizungsgesetz gezeigt: Bürger akzeptieren nicht einfach so, dass eine Bundesregierung, die Kommune oder auch der städtische Versorger in den Heizungskeller hineinregieren.

„Was mich ankotzt, ist die Kommunikation.“

Von dem Ende fürs Mannheimer Gasnetz hat Fischer aus der Presse erfahren, sagt er. Hauseigentümer hat MVV nicht informiert. Fischer ist Immobilienverwalter mehrerer Mietshäuser, auch in dieser Rolle hat er keine Post bekommen. „Was mich ankotzt, ist die Kommunikation. Ich kann kaufmännisch ganz viele Dinge verstehen. Aber die MVV soll bitte die Nutzer mitnehmen.“ Es sei doch viel einfacher, findet Fischer, die Leute von Anfang an klar zu informieren, als sie hinterher wieder einfangen zu müssen.

Wie das klappen kann, machen Städte in der Schweiz vor. Zürich hat das Gasnetz eines Stadtviertels bereits abgestellt. Die Leitungen wurden schrittweise entleert und abgedreht. Nun beziehen die Bewohner von Zürich-Nord noch häufiger Fernwärme als zuvor. Wer eine Wärmepumpe einbaut, erhält eine Förderung von mehreren Tausend Franken. Und anders als in Deutschland ist der neue Einbau einer fossilen Heizung grundsätzlich verboten.

Wie also schafft man es, den Menschen zu vermitteln, was auf sie zukommt? Anruf bei der Energiebeauftragten von Zürich, Silvia Banfi. „Wenn man als Bürger in einem Volksentscheid darüber abstimmt, wie die Zukunft gestaltet wird, ist die Akzeptanz viel größer“, sagt Banfi. Denn die Bürger im Kanton und der Stadt Zürich haben direkt über Klimagesetze abgestimmt, über die Ausweitung der Fernwärme, selbst über die Höhe der Kredite für diese Investitionen. Bürgerbeteiligung ist in die direkte Demokratie der Schweiz eingeschrieben. Diesen Vorteil hat Deutschland nicht.

Menschen mitnehmen geht aber auch anders: Zürich hat gemeinsam mit dem Gasversorger alle Eigentümer direkt angeschrieben, erzählt Banfi, und auf den Informationsveranstaltungen zusätzlich individuelle Beratungen angeboten. Bewohner haben aber auch dauerhaft eine klare Anlaufstelle: Die Stadt bietet eine zentrale kostenlose Erstberatung. Online schlüsselt eine Stadtkarte bis auf einzelne Häuser auf, wie die Bewohner heizen, und listet für jede Straße Alternativen zum Erdgas.

Da es Jahre dauert, bis das Erdgas wirklich abgestellt wird, „haben wir die Menschen immer wieder sensibilisiert, immer wieder erinnert“, sagt Banfi. Einzelne wenige Eigentümer, für die weder die Wärmepumpe noch ein Fernwärmeanschluss möglich waren, konnten zum Beispiel auf Holzpellets ausweichen. Seit Ende 2024 ist das Gasnetz in Zürich-Nord nun abgestellt, die Gasleitungen liegen noch unter der Erde und werden, wenn sie im Straßenbau stören, abgebaut. Von 2030 an sind die nächsten Viertel mit der Umstellung dran. Banfi erzählt, dass die Stadt die Energieberatung für den Start extra aufgestockt hatte: „Aber wir waren echt überrascht: Die Nachfrage war geringer als erwartet. Die Leute wissen offenbar schon, was sie erwartet und wie sie vorgehen müssen.“

Zürich erleichtert seinen Bewohnern die Umstellung zudem, indem Haushalte mit neuen Gasheizungen eine anteilige Entschädigung erhalten. In Mannheim kann das Energieunternehmen darauf noch keine Antwort geben: Es fehle dazu eine bundesweite Regelung.

Jörg Fischer steigt in den Keller eines der Mehrfamilienhäuser, die er in Mannheim als Immobilienverwalter verantwortet, die Taschenlampe in der Hand. Wie bei ihm zu Hause steht auch hier eine neue Gastherme, die sechs Wohnungen versorgt. „Hätte ich vorher gewusst, dass die bald nutzlos sein wird, hätte ich mich für die Wärmepumpe entschieden“, sagt er heute.

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