Wachstumszahlen:Indiens Mega-Wachstum schwindet beim Nachrechnen

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Blick auf die Skyline von Mumbai.

(Foto: Bloomberg)
  • Die Wirtschaft des Landes sei zuletzt um 7,3 Prozent gewachsen, verkündet die Regierung.
  • Doch selbst staatsnahe Ökonomen bezweifeln, dass das stimmt. "Es fühlt sich einfach nicht nach einem Wachstum von sieben bis acht Prozent an", sagt jemand aus dem Umfeld der indischen Zentralbank.

Von Arne Perras, Singapur

Kürzlich reiste Indiens Premier Narendra Modi in den Bundesstaat Uttar Pradesh, um dort 2100 Elektro-Rikschas unters Volk zu bringen. Alle Inder sollten sehen, dass die Regierung auf Innovationen setzt und dabei auch die ärmeren Schichten im Land nicht aus den Augen verliert. Mit symbolischen Auftritten wie diesem versucht die Modi-Regierung, zwei Kernbotschaften zu vermitteln.

Erstens: Indien ist stark und die am schnellsten wachsende Wirtschaft der Welt. Zweitens: Dieser Aufschwung wird auch die Massen mitnehmen, sie bekommen neue Chancen und Jobs und finden so aus der Armut heraus. Alles in allem entspricht dies noch immer dem vollmundigen Wahlversprechen, das Modi 2014 spektakulär ins Amt katapultierte.

Nun ist es aber keineswegs so, dass das strahlende Bild, das der Premier und seine PR-Strategen zeichnen, überall Zuversicht erzeugt. Nichts illustriert die herrschende Skepsis derzeit besser als die Kontroverse um Indiens Wachstumszahlen, ein Streit, der schon das ganze vergangene Jahr über schwelte. Nun aber strebt diese Skepsis einem neuen Höhepunkt zu, seitdem der Chef der indischen Notenbank, Raghuram Rajan, selbst Zweifel öffentlich machte und erklärte: "Es gibt Probleme mit der Art und Weise, wie wir unser Bruttoinlandsprodukt berechnen." Rajan schob dann nach, dass er im Großen und Ganzen keine Zweifel an der Richtigkeit der BIP-Zahlen habe.

Wie belastbar sind die Zahlen tatsächlich?

Am Montag verkündete die Regierung denn auch, die Wirtschaft sei im vierten Quartal des vergangenen Jahres um 7,3 Prozent gewachsen. Für das gesamte Steuerjahr, das erst im März endet, rechnet sie sogar mit einem Plus von 7,6 Prozent.

Doch die Unternehmerschaft und Wirtschaftswissenschaftler haben Zweifel geäußert, wie belastbar solche Zahlen tatsächlich sind. Es ist eine Skepsis, die nun selbst staatsnahe Quellen, wenn auch anonym, zum Ausdruck bringen: "Es fühlt sich einfach nicht nach einem Wachstum von sieben bis acht Prozent an", zitierte die Nachrichtenagentur Reuters kürzlich einen nicht namentlich genannten Experten im Umfeld der indischen Zentralbank.

Rechnet sich Indien seine Sprungkraft schön? Ritika Mankar Mukherjee, Ökonom bei der Investment Bank Ambit Capital in Mumbai, formulierte seine Zweifel so: "Indien ist nicht die am schnellsten wachsende Wirtschaft der Welt." In der Unternehmerschaft herrschte zuletzt Ernüchterung darüber, dass angekündigte Reformen - vor allem der leichtere Landerwerb für Investoren sowie eine Vereinheitlichung der Steuern - kaum vorangekommen sind.

Der indische Wirtschaftsexperte Rajiv Kumar äußerte die Sorge, dass die herrschende Konfusion über die neuen Wachstumszahlen an der Glaubwürdigkeit kratze. "Eine solche Unsicherheit ist alles andere als gut für Investoren," sagt Kumar vom renommierten Centre for Policy Research in Delhi. "Die Regierung hätte schon vor Monaten eine unabhängige Kommission von Experten berufen sollen, eine externe Task Force, die das Rechenwerk überprüft, um die Glaubwürdigkeit wieder herzustellen."

Neue Methode ließ die Zahlen klettern

Kumar hat eine solche Verunsicherung über Wachstumszahlen in Indien noch nie erlebt. Darin liegt eine gewisse Ironie, wenn man bedenkt, dass die Regierung im Januar 2015 die Methode der Berechnungen für das BIP unter anderem mit dem Argument umstellte, man müsse ein realistischeres Bild von der Lage im Land gewinnen und sich auch internationalen Standards anpassen. So wurden fortan zum Beispiel nicht mehr Faktorkosten, sondern Marktpreise für Berechnungen des BIP herangezogen, wie in vielen Ländern üblich. Außerdem schob Indien das Basisjahr nach vorne, von 2005 auf 2014. Die neue Methode führte dazu, dass die Zahlen sprunghaft nach oben kletterten, für das Fiskaljahr 2014 war ein Wachstum von 4,7 Prozent erwartet worden, nach den neuen Zahlen lag es bei 6,9 Prozent.

Manche Analysten sprachen damals schon von einem schlechten Witz, sie sahen in dem Wechsel einen fragwürdigen Schritt, das Wachstum auf dem Papier zu steigern, was die Regierung empört zurückwies. Wie nun zu sehen ist, hält die Skepsis allerdings an, weil viele Indikatoren im Widerspruch zu den hochfliegenden Wachstumszahlen zu stehen scheinen. "Was in den einzelnen Wirtschaftsbereichen zu beobachten ist, passt nicht zu einem Wachstum von sieben Prozent oder mehr", sagt Kumar. Nach Daten, die im Januar veröffentlicht wurden, ist die Industrieproduktion im vergangenen November rückläufig gewesen. Das überraschte, zumal die Regierung stark auf einen Ausbau dieses Sektors setzt. Die Landwirtschaft, die immer noch eine Mehrheit der Inder beschäftigt, hat wegen des schlechten Monsuns vielerorts mit Dürre zu kämpfen. Diese Krise dauert bereits das zweite Jahr an. Und selbst der starke Service-Sektor hat sich laut Kumar nicht so blendend entwickelt wie erhofft.

"Es ist an der Zeit, dass das Volk mehr ökonomische Daten einfordert"

Der Wirtschaftswissenschaftler Ashok Gulati vom Indian Council for Research on International Economic Relations sagte in der Zeitung The Hindu: "Etwa 80 Prozent der Ökonomen haben den Eindruck, dass die Art, wie die neuen BIP-Zahlen berechnet werden, höhere Schätzwerte ergibt als real vorhanden sind. Man geht davon aus, dass die Wirtschaft tatsächlich mit fünf bis sechs Prozent wächst." Dahinter stecke kein absichtlicher Versuch, Zahlen zu verfälschen, die Probleme lägen vielmehr in der Berechnungsmethode, sagte Gulati.

Nichts deutet darauf hin, dass die Debatte schon bald verstummen wird. Denn wenn Indien tatsächlich neuer Motor der Weltwirtschaft werden will, jetzt da China schwächelt, ist es auf das Vertrauen von Investoren angewiesen. Die beginnen nun angesichts der Verunsicherung damit, selbst zu rechnen, um sich nicht im Dschungel indischer Zahlen zu verheddern. Ein Editorial in der Zeitung Indian Express, das sich zur Aufgabe machte, das Rätsel um das Wachstum zu prüfen, kam zu dem Schluss: "Es ist an der Zeit, dass das Volk mehr ökonomische Daten von der Regierung einfordert, damit es den wahren Zustand seiner Wirtschaft erkennen kann."

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