Wachstumsstaaten:Zwischen Slums und Cyberspace

Bittere Armut und große Hoffnung: In rasantem Tempo wandelt sich der Milliardenstaat Indien vom Schwellenland zur Wirtschaftsmacht von morgen.

Markus Balser

Vorbei an heiligen Kühen, den Gassen der Armenviertel und den gesenkten Blicken der Bettler zieht sich die Hosur Road vom Zentrum Bengalurus (vormals Bangalore) in den Südosten der indischen Millionenstadt. Ansonsten beschauliche Ausfallstraße, wandelt sie sich kurz nach Sonnenaufgang zur Schlagader der Globalisierung.

Wachstumsstaaten: Computermesse in Bengaluru (vormals Bangalore): Hier ballt sich die indische IT-Industrie.

Computermesse in Bengaluru (vormals Bangalore): Hier ballt sich die indische IT-Industrie.

(Foto: Foto: AP)

Klapprige Busse, Motorräder und Mofarikschas schieben sich hupend stadtauswärts. Ziel der Karawane: "Electronic City", ein indisches Silicon Valley, von dem aus 200.000 Arbeiter die Welt mit einem endlosen Strom aus Daten versorgen.

Wie keine andere Metropole Indiens verkörpert Bengaluru das moderne Gesicht des Landes. Der Sitz der indischen IT-Industrie ist die größte ökonomische Hoffnung der mit einer Milliarde Menschen bevölkerungsreichsten Demokratie. "Die Welt steuert auf ein indisches Jahrhundert zu", prophezeit Premier Manmohan Singh, berauscht vom Erfolg jener Manager, die in Bengaluru die ersten indischen Weltkonzerne geformt haben.

Am schnellsten wachsende Volkswirtschaft

"Neue Maharadschas" nennen die Studenten der Stadt ihre Vorbilder, weil sie es mit ihren Konzernen an der Börse zu sagenhaftem Reichtum gebracht haben. "Wenn sich der Elefant erst einmal bewegt, kann ihn nichts mehr stoppen", ist sich Singh sicher.

Hinter den USA und China werde sich das Land binnen viereinhalb Jahrzehnten auf Rang drei der globalen Wirtschaftsmächte schieben, rechnet auch die US-Investmentbank Goldman Sachs vor - als am schnellsten wachsende große Volkswirtschaft der Welt. Seit Jahren schon glänzt Indien wie der Rivale China mit Wachstumsraten von neun Prozent. Doch während in Peking Parteikader die Wirtschaft dirigistisch vorantreiben, boomt Indien planlos und chaotisch.

"To be Bangalored" - im Sinne von: "Nichts geht mehr" - ist im ganzen Land längst zum Begriff geworden. Schon jetzt kann die Nation ihr Wachstum vielerorts kaum bewältigen, die großen Städte quellen über. Mumbais (vormals Bombay) Einwohnerzahl könne sich bis 2025 verdoppeln, sagen die Vereinten Nationen voraus. Bengaluru hatte vor 15 Jahren 2,5 Millionen Bewohner - heute sind es beinahe sechs Millionen.

Die Folgen sind zu spüren. Zwar mangelt es in Electronic City an nichts, dort sprengen Schläuche pausenlos Wasser auf die tiefgrünen Gärten der Niederlassungen von Weltkonzernen wie Motorola oder Hewlett Packard. Doch in den Armenvierteln rinnt im Sommer oft nur ein bräunliches Rinnsal aus den wenigen Leitungen, kaum ein Tag vergeht dort ohne Stromausfall.

Wohlstand ist Staatsauftrag

Überlastete Flug- und Seehäfen bremsen den Export. Und während Indiens Eisenbahnminister von Schnellbahntrassen träumt, zwängen sich tagtäglich Millionen Inder in hoffnungslos überfüllte Vorstadtzüge.

Dabei folgt die Wirtschaft des Landes einem unausgesprochenen Staatsauftrag aus der Hauptstadt Delhi: dem Land mehr Wohlstand bringen. In der Zentrale seines IT-Konzerns Wipro am Rande Bengalurus legt Azim Premji - schlohweißes Haar, legere Kleidung - die Stirn in Sorgenfalten. Er gilt als einer der Väter des rasanten Booms. Seine mehr als 70.000 Angestellten erwirtschaften Milliardenumsätze - vor fünf Jahren waren es erst 25.000 Mitarbeiter. "Fortschritt muss irgendwo anfangen, damit sich neues Denken durchsetzt", sagt Premji. Doch der 63-Jährige weiß auch, dass eine Erfolgsbranche allein Indiens Probleme nicht lösen kann.

Lesen Sie auf der nächsten Seite, warum Indien trotz verlangsamten Wachstums für Investoren interessant ist.

Zwischen Slums und Cyberspace

Noch immer kann ein Drittel aller Inder den Teufelskreis aus Armut und fehlender Schulbildung nicht durchbrechen. Jedes Jahr verlassen 25.0000 Ingenieure die Universitäten. Gleichzeitig ist die Analphabetenquote mit fast 40 Prozent höher als in Nigeria. "Wir sind in der Pflicht, dem Land zurückzugeben, was es uns ermöglicht hat", sagt Premji. Eine Milliarde Dollar hat der Unternehmer in seine Stiftung gesteckt, um Bildung in den ärmsten Teilen des Landes zu finanzieren. "Nur so werden wir das Wachstum auf eine breite Basis stellen."

Mumbai, AFP

Mumbais (vormals Bombay) Einwohnerzahl könne sich bis 2025 verdoppeln, sagen die Vereinten Nationen voraus.

(Foto: Foto: AFP)

Zwar wächst Indiens Pharmabranche, und die Biotechbranche des Landes hat mit dem Insulinhersteller Biocon ein Unternehmen von Weltruf hervorgebracht. Auch das Industriekonglomerat Tata meldete kürzlich mit der Übernahme von Jaguar seine internationalen Ambitionen an. Trotzdem: Viele Wirtschaftszweige folgen dem Aufschwung der IT-Branche nur im Schneckentempo, und die Zweifel an der Nachhaltigkeit des Booms wachsen.

Gedrosseltes Wachstum

Auch die Schwäche des wichtigen Handelspartners USA belastet. Das Wachstum der Industrie brach binnen weniger Monate von gut zehn auf sechs Prozent ein, und Indiens Erfolgsbranchen IT und Telekom erwarten in diesem Jahr nur ein Plus von 20 Prozent - nach etwa 28 Prozent im vergangenen Jahr.

Doch unablässig strömt neues Kapital ins Land. Internationale Investoren wollen von einer Krise nichts wissen und träumen von einem gigantischen Markt. Neue Werke, 4000 zusätzliche Mitarbeiter allein in diesem Jahr - Siemens-Statthalter Armin Bruck erklärt, warum der Konzern sein Geschäft ausbaut: "Hier wächst eine neue Mittelschicht heran. 300 Millionen Menschen: ein Land, ein Markt, so groß wie die Europäische Union." Außerdem eine demokratisch gewählte Regierung, englischsprechende, billige Arbeitskräfte, weniger Patentprobleme als in China - in den Augen der Geldgeber bergen Investitionen in Indien trotz des derzeitigen Rückschlags kaum Risiken.

Noch aber müssen sich Manager einiges einfallen lassen, um im Land gute Geschäfte machen zu können. Siemens etwa produzierte für den neuen Flughafen von Bengaluru nicht nur Logistik und Elektronik. Der Konzern liefert den Airport fast schlüsselfertig ab - und stellte auch noch dessen Finanzierung auf die Beine.

"Indien ist ein geduldiges Land"

In ihrem ersten Indien-Bericht hat die OECD ein Lastenheft für die Regierung zusammengestellt, die in einigen Monaten um die Wiederwahl kämpft. Das Wachstum müsse endlich mehr Menschen einschließen, fordert die Organisation und warnt vor den Folgen einer gespaltenen Nation.

Auf die Frage, was die Segnungen der Moderne ihr gebracht haben, lächelt Verkäuferin Meera nur, während sich die Blechkarawane der Hosur Road am Abend vorbei an ihrem kleinen Stand zurück ins Zentrum von Bengaluru schiebt. Wie alt sie ist? Meera weiß es nicht. Seit zehn Jahren lebt sie mit ihrem Mann in einem benachbarten Armenviertel. "Der Tag wird kommen, an dem sich die Mühe lohnt", sagt Meera. "Indien ist ein geduldiges Land."

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