Süddeutsche Zeitung

Volkswagen in Brasilien:VW erforscht seine dunkle Vergangenheit

  • In Brasilien werden Vorwürfe gegen Konzerne aus aller Welt laut.
  • Es geht um Bespitzelung und Folter während der Militärdiktatur in den Sechziger- und Siebzigerjahren.
  • Gegen Volkswagen wurde nun eine Sammelanzeige eingereicht.

Report von Boris Herrmann, Rio de Janeiro

In den nächsten Tagen reist Manfred Grieger wieder nach Brasilien. Von Wolfsburg nach São Paulo, der Chef-Historiker der Volkswagen AG ist auf Krisenmission. Ausnahmsweise geht es mal nicht um manipulierte Abgaswerte, sondern um: ja was eigentlich? "Schwer zu sagen, ich gucke mir das erst einmal einen Moment lang an", sagt Grieger.

Es geht, soweit die Faktenlage, um eine vor zwei Wochen eingereichte Anzeige bei der Bundesstaatsanwaltschaft in São Paulo - gegen Volkswagen. Sie beruht auf einen Bericht der brasilianischen Wahrheitskommission vom vergangenen Jahr. Grieger fasst den Sachverhalt so zusammen: "Wie bewertet man das Verhalten von Unternehmen in autoritären Staaten?" Im Kommissionsbericht steht es etwas deutlicher. Demnach haben über 80 Konzerne aus aller Welt in den Sechziger- und Siebzigerjahren mehr oder weniger mit der brasilianischen Militärdiktatur kooperiert. Darunter auch VW do Brasil - mutmaßlich eher mehr als weniger.

Noch konkreter wird es, wenn man mit Lúcio Bellentani, 71, spricht. Er arbeitete von 1964 bis 1972 als Werkzeugmacher im VW-Werk von São Bernardo do Campo bei São Paulo. Er war Gewerkschaftsmitglied, trat für Arbeitnehmerrechte ein, verteilte Flugblätter auf dem Firmengelände und organisierte Diskussionsveranstaltungen. Das wurde ihm offenbar zum Verhängnis. Bellentani erzählt, dass er im Juni 1972 während einer Nachtschicht verhaftet wurde, bedroht mit einem Maschinengewehr. Er erinnert sich auch noch, dass dies unter Aufsicht des damaligen Sicherheitschefs geschah. Der Mann arbeitete noch bis in die Neunziger Jahre bei VW do Brasil. Bellentani sagt: "Sie haben noch auf dem Firmengelände begonnen, mich zu schlagen und zu foltern, dann ging es zur Dops." Zur Geheimpolizei des Militärregimes. Dort wurde Lúcio Bellentani nach eigene Angaben 47 Tage lang erniedrigt und gefoltert, unter anderem mit Elektroschocks. Er hatte in dieser Zeit keinen Kontakt zur Außenwelt, seine Frau nahm an, er sei tot. Später wurde Bellentani zu zwei Jahren Haft verurteilt. Erst 1975 kam er frei.

Es sind unter anderem solche Zeitzeugenberichte, auf die sich die Sammelanzeige gegen die VW-Tochter in Brasilien stützt. Eingereicht wurde sie vom Arbeiterforum für Wahrheit, Gerechtigkeit und Reparation. Es gibt aber auch als vertraulich eingestufte Dokumente, die den Konzern belasten und der SZ vorliegen. Sie erwecken zumindest den Verdacht, dass VW do Brasil das Militärregime mit schwarzen Listen versorgte. In einem internen Schreiben vom 9. September 1974 werden etwa sechs Angestellte aufgeführt, die es wegen subversiver Tätigkeiten offenbar mit dem Obersten Militärtribunal zu tun bekamen.

Was das Mitte der Siebziger in Brasilien bedeutete, legt die Aussage von Lúcio Bellentani nahe. Der ehemalige Werkzeugmacher behauptet: "Sie haben uns nicht nur bei der Arbeit bespitzelt, die Firma hat auch mit den Folterknechten der Diktatur kooperiert." Ein harter Vorwurf, den der VW-Historiker Grieger nicht einfach so im Raum stehen lassen will. Er möchte aber auch nicht ausschließen, dass Bellentani zumindest teilweise recht hat.

Grieger ist ein Mann, dem man abnimmt, dass er es ernst meint mit der Aufarbeitung. Neben seiner Arbeit in Wolfsburg ist er als Lehrbeauftragter an der Uni Göttingen beschäftigt. Er hat auch schon die VW-Geschichte im Dritten Reich selbstkritisch beleuchtet. Er wägt lieber ab als voreilige Schlüsse zu ziehen. "Das Thema will umkreist sein", sagt er.

Grieger ist auch nicht erst mit der Anzeige vom 22. September aktiv geworden. Er war schon mehrfach in Brasilien und hat versucht, mit Leuten in Kontakt zu treten, die in den Unterlagen auftauchen. Mit drei von ihnen hat er schon gesprochen, Lúcio Bellentani war nicht dabei. Auch weil der sich bislang weigerte, sich mit einem Abgesandten aus Wolfsburg zu treffen. Er glaubt, dass ihm dann eine persönliche Entschädigung angeboten wird. Daran hat er kein Interesse. Bellentani geht es darum, dass die Wahrheit an Licht kommt. Er sagt: "Was wir wollen, ist eine kollektive Entschädigung. Der VW-Konzern muss öffentlich anerkennen, dass er der Militärdiktatur geholfen hat." Im Übrigen gehe es nicht nur um VW, sondern um eine ganze Reihe von internationalen Firmen.

Die Untersuchungskommission belastet auch andere Konzerne aus Deutschland und den USA

Tatsächlich werden im Bericht der Wahrheitskommission auch Unternehmen wie Petrobras, General Motors und Kodak belastetet. Aber auch zwei weitere Tochter-firmen deutscher Konzerne: Mercedes-Benz do Brasil und Siemens Limitada. Sie sollen demnach das Folterzentrum Operação Bandeirantes (Oban) in den Siebzigern finanziell unterstützt haben. Die Daimler AG in Stuttgart teilt dazu auf Anfrage mit: "Bislang haben unsere eigenen Recherchen keinerlei Hinweise auf eine Unterstützung des ehemaligen Militärregimes seitens Daimler in Brasilien ergeben." Man sei selbstverständlich zur Unterstützung der Behörden bereit, um den Sachverhalt weiter aufzuklären. Von Siemens in München heißt es: "Wir wurden bislang nicht mit konkreten Fakten konfrontiert, denen wir nachgehen könnten." Im Siemens-Archiv seien keine Quellen zu den angeblichen Vorfällen überliefert.

Soweit wie der VW-Konzern, der einen Historiker zur Recherche nach São Paulo schickt, ging bislang offenbar niemand. Manfred Grieger will nichts beschönigen, aber er hat den Eindruck, "dass die Aufarbeitung in Brasilien mit dem Fingerzeig auf ausländische Firmen besser gelingt." Während der brasilianischen Militärdiktatur zwischen 1964 und 1985 wurden 400 Menschen ermordet - nach offiziellen Angaben. Die Wahrheitskommission korrigierte diese Zahl zuletzt deutlich nach oben. Trotzdem war die Diktatur wohl nicht ganz so blutig wie jene in Argentinien mit etwa 30 000 Toten und Verschwundenen. Es gibt aber einen eklatanten Unterschied in der Art der Aufarbeitung. Im Gegensatz zu Argentinien weigert sich Brasilien bis heute, strafrechtlich gegen die Täter vorzugehen. Es wird auf ein Amnestiegesetz von 1979 verwiesen, mit dem die Militärregierung sich und ihre Schergen gewissermaßen selbst freisprach.

VW herabgestuft

Paris - Die US-Ratingagentur Standard & Poor's hat wegen des Abgas-Skandals die Kreditwürdigkeit des Volkswagen-Konzerns herabgestuft. Die Note für die langfristige Kreditwürdigkeit werde um eine Stufe auf A- gesenkt. Eine erneute Herabstufung "um bis zu zwei weitere Stufen" sei möglich. Hintergrund seien die weitreichenden negativen Auswirkungen des Abgas-Skandals. Wegen der Nachrüstung von Fahrzeugen und möglicher Schadenersatz- und Strafzahlungen muss Volkswagen mit hohen Kosten rechnen. AFP

Kein demokratisch gewähltes Staatsoberhaupt hat dieses Gesetz bislang angetastet, auch nicht die linksgerichteten Regierungen von Dilma Rousseff und ihres Vorgängers Luiz Inácio Lula da Silva. Das ist erstaunlich, weil die beiden zum Kreis der Diktaturopfer gehören. Die ehemalige Guerilla-Kampferin Rousseff wurde 1970 verhaftet, drei Jahre festgehalten und gefoltert. Der frühere Gewerkschaftsführer Lula wurde mutmaßlich bespitzelt. Sein Name taucht in einem der Dokumente auf, die Volkswagen do Brasil belasten.

Die Täter sind nicht in der brasilianischen Gesellschaft untergetaucht, sie machten dort Karriere. Lula und Rousseff haben sich wohl auch deshalb nicht an das Amnestiegesetz herangetraut, weil das eine offene Kriegserklärung an immer noch mächtige Militärkreise wäre. In der aktuellen Debatte geht es nun auch darum, ob die Amnestie auch für internationale Konzerne und ihre ehemaligen Angestellten gilt.

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Quelle:
SZ vom 13.10.2015/jasch
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