Manipulierte Abgastests:Genickschlag für Wolfsburg

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Wolfsburg ist Volkswagen ist Krise. (Foto: Getty Images)

Vom Volkswagenmetzger bis zum Supermarkt-Kassierer - fast jeder in Wolfsburg hat irgendwie mit VW zu tun. Die Stadt strotzt vor Selbstbewusstsein. Dann kommt die Abgas-Affäre.

Von Peter Burghardt, Wolfsburg

Auf einmal wird Rocco Artale still, dabei macht ihn die Wolfsburger Geschichte ansonsten so stolz. "VW ist in der Bredouille", sagt er leise und schaut betreten auf die Tischplatte. "Aber ich bin Ehrenbürger. Was soll ich sagen, man liest ja jeden Tag was Neues. Erst mal müssen die Verantwortlichen zu Potte kommen."

Volkswagen und Wolfsburg sind sein Leben - wegen dieser Firma und dieser Stadt hat es der Italiener aus den Abruzzen bis an die Seite von ehemaligen Vorstandsvorsitzenden und Bürgermeistern geschafft. Und jetzt soll es statt um Ingenieurskunst, Aufstieg und Integration plötzlich um Betrug, Strafen und Milliardenkosten gehen, um den drohenden Absturz einer ganzen Branche und einer ganzen Region?

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1962 verließ Artale sein Heimatdorf bei Pescara und fuhr mit dem Zug nach Wolfsburg. Er gehörte zu den ersten Ausländern, die VW anwarb, es war die Zeit des deutschen Wirtschaftswunders. Er stand am Band, als millionenfach der Käfer vorbei zog, nachher der 1500er mit dem Stufenheck. "Dann kam der Golf", erzählt er, die Augen hinter der Brille glänzen wässrig. Zum 75-jährigen Stadtjubiläum stellte die Volkswagen AG 2013 einen weißen Riesengolf als Denkmal an eine Ausfallstraße. Aus den Hallen rollten der Passat, der Polo, der Tiguan und all die anderen Modelle, die Menschen wie Artale wie Epochen begleiten. Meistens ging es für VW und Wolfsburg bergauf, auch für ihn.

Wolfsburg ist keine Schönheit, aber das Herz von VW

Er erinnert sich, wie sie als Fremde ohne ein Wort Deutsch am Anfang mit Broschüren hantierten, darin Bildsprache für Werkzeuge wie Hammer und Zange. Rocco Artale lernte dann schnell und ist heute selbst ein Wolfsburger Symbol. Er gründete den Ausländerbeirat, wurde Gewerkschaftssekretär der Wolfsburger IG Metall und war 15 Jahre lang Ratsherr für die SPD. 2012 ernannte die Stadt den einstigen Gastarbeiter Artale zum 18. Ehrenbürger, in einer Reihe mit den früheren VW-Chefs Heinrich Nordhoff, Carl H. Hahn und Ferdinand Piëch; bei Martin Winterkorn dürfte es mit dem Titel nichts mehr werden. Die Urkunde verlieh dem Sozialdemokraten Artale derselbe SPD-Bürgermeister Klaus Mohrs, der am Montag im Rathaus eine Haushaltssperre verkündete, weil die Abgasaffäre auch die Stadt teuer zu stehen kommen dürfte.

Rocco Artale sitzt im Büro des Seniorenbeirats, dem er als Rentner vorsteht, ein kleiner Mann mit hoher Stirn. Als die Katastrophe über seine neue Heimat hereinbrach, war er mit einer Wolfsburger Reisegruppe in seiner alten Heimat, jedes Jahr organisiert Artale eine Gruppenfahrt nach Bella Italia. Diesmal ging es zwei Wochen lang durch Umbrien und die Toskana. Bis zuletzt mussten sie sich mit ihrer niedersächsischen Retortensiedlung nirgends mehr verstecken. Im Vergleich zu Lucca oder Florenz ist Wolfsburg zwar keine Perle. Dafür ist Wolfsburg das Herz des zweitgrößten Autobauers der Welt, mit Bewohnern aus mehr als 100 Nationen, einer Fußballmannschaft in der Champions League und weiteren Vorzügen, von denen andere Städte dieser Größe träumen. "Wir haben diese Stadt mitgestaltet", sagt Rocco Artale. "Wir sitzen alle in einem Boot. VW wird diese Krise meistern."

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Vielleicht muss man sogar noch weiter zurück gehen, um die Ängste zu verstehen, das komplizierte Selbstwertgefühl der Wolfsburger und die mögliche Fallhöhe. Im Grün am Rande von Wolfsburg steht das Schloss, das einzig wirklich historische Bauwerk. In einem Seitengebäude ist das Stadtmuseum untergebracht, man kann sich dort auch Hitlers Rede bei der Grundsteinlegung vom 26. Mai 1938 anhören. "Eine vorbildliche deutsche Arbeiterstadt" versprach der Diktator, als die "Stadt des KdF-Wagens bei Fallersleben" gegründet wurde. Nach Zwangsarbeit, Krieg und Zerstörung bekam die Trabantenstadt im Zonenrandgebiet erst 1945 den Namen Wolfsburg und wurde zum Phänomen. Mal global und mal belächelt.

An einem schönen Abend auf der Stadtbrücke sieht die Kulisse aus wie ein modernes Metropolis von Fritz Lang in Farbe. Im Westen sinkt die Sonne in den Mittellandkanal mit den Frachtschiffen. Das letzte Licht des Tages bestrahlt das gigantische Fabrikgelände am Nordufer mit dem enormen VW-Logo und den vier Schornsteinen, die Wolfsburg überragen wie anderswo Kirchtürme. Darin liegen die Produktionshallen und die Autostadt mit Pavillons wie Paläste, wie eine Festung, Abholer pilgern wie gehabt in Massen hin.

"Gewaltig", liest man an Querschnitten von VW, Bentley, Lamborghini. "Innovativ. Präzise. Brillant. Komplex. Individuell. Hochwertig." Im "ZeitHaus" steht der Volkswagen 1320S, der im Jahr 1972 als 15 007 034er Käfer den Ford T überholte. "Bitte nicht streicheln", heißt es daneben auf einem VW-Bus. Man liest auch von "der Antriebs- und Kraftstoffstrategie von Volkswagen". Im Osten thront die Volkswagen-Arena des VfL, nachts leuchtet ihr grüner Rand. Ans Südufer beim Bahnhof schmiegt sich wie ein Raumschiff das Wissenschaftsmuseum Phaeno, entworfen von der Stararchitektin Zaha Hadid. Ein paar Fußminuten weiter steht das Kunstmuseum.

Das alles würde es nicht geben ohne VW. 70 000 Angestellte und Zulieferer arbeiten auf den sechs Hektar der Konzernzentrale in drei Schichten, fast jeder der 125 000 Einwohner hat auf irgendeine Weise mit VW zu tun. Wenn Mercedes-Busse Arbeiter bringen oder abholen, dann mit überklebtem Stern, auch so was gibt's nur in Wolfsburg. Am Tor Ost gehen beim Schichtwechsel ab 22 Uhr wie seit Jahrzehnten Scharen ein und aus, ihre Schritte vermischen sich mit dem Surren der Motoren auf den Parkplätzen. Ein junger Zeitarbeiter sorgt sich um seinen Job. Ein festangestellter Mechaniker wartet auf die Betriebsversammlung. Ein Gelenkwellenmonteur schimpft auf die verlogenen Amerikaner mit ihren dicken Schlitten und auf die gefeuerten Manager mit ihren dicken Abfindungen. Ein anderer antwortet auf die Frage nach der Stimmung: "Beschissen." Viele schweigen.

Ein Jammer. "Wolfsburg hat sich so gut entwickelt, mit Selbstbewusstsein", sagt Sieghard Wilhelm in einem Café der zubetonierten Innenstadt. "Und jetzt dieser Genickschlag." Wilhelm ist Fraktionssprecher der Wolfsburger Grünen, die in dieser Kfz-Zentrale fünf der 46 Abgeordneten stellen. Natürlich mahnten sie zu Ausstoßkontrolle und Tempolimit, Wilhelm hat auf seinem Smartphone eine App mit den Luftwerten. Doch nicht mal Wolfsburgs Grüne triumphieren, seit die Mogelei bei VW aufgeflogen ist. "Wir leben in dieser Stadt, mit dieser Stadt, von dieser Stadt", sagt Wilhelm. "Es hat keinen Sinn, den Schäferhund zu spielen."

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Er hat ganz früher Autos verkauft und war lange selbst bei VW beschäftigt, VW-Bank und VW-Versicherung. Er fährt einen Benziner und seine Frau einen Diesel von VW, sie will als nächstes einen Beetle-Cabrio leasen. Auch Sieghard Wilhelm hat keine Ahnung, wie dieses Desaster endet. "Wir wissen doch auch noch zu wenig. Wir wissen nur, dass wir von VW abhängig sind." Wolfsburg wird sogar von VW geheizt, und die Volkswagenmetzgerei verließen im vergangenen Jahr offiziell 7,8 Millionen Currywürste.

Es gab immer mal wieder VW-Krisen. "Aber dieses Mal ist es ganz anders", sagt Wilhelm. "Alle sind betroffen, vom Fleischer bis zum Supermarkt." Wolfsburg gehört trotz seiner Lage jenseits der Metropolen wie Ingolstadt zu den dynamischsten Städten Deutschlands und wurde bis vor kurzem von anderen Kommunen beneidet: 250 Millionen Euro Überschuss, jede Menge Geld für Schulen, Kitas, Krankenhäuser, Parks. Kaum irgendwo sonst in der Republik sind die Durchschnittslöhne (und Mieten) so hoch. Über Nacht allerdings müssen sämtliche öffentlichen Ausgaben geprüft werden, weil der Mäzen VW für Umrüstung und Prozesse Milliarden Euro zurück stellt und eine Gewinnwarnung heraus gegeben hat. Mehr als 300 Millionen Euro an Gewerbesteuern bekam Wolfsburg 2014, das wird sich vermutlich auf Jahre hinaus nicht wiederholen.

Außerdem müssen Tausende Flüchtlinge untergebracht und die islamischen Gemeinden gepflegt werden, Wolfsburg ist eine Hochburg der Salafisten. Auch Rainer Steinkamp fürchtet die Folgen des VW-Dramas, er leitet seit 2008 das angesehene Theater Wolfsburg und genoss bisher die Möglichkeiten. "Das ist eine ganz bedrohliche Situation für die Stadt", sagt er. "Die Summen, die da genannt werden, sind für mich unfassbar. Wir schauen mit großen Augen." Aber er merkt gleichzeitig, wie VW-Wolfsburg zusammen rückt.

Es ist alles ziemlich spannend. Erst Piëch gegen Winterkorn. Dann dieser Weltskandal um manipulierte Software. "Das hat Dimensionen für großes Schauspiel", findet der Intendant Steinkamp. "Vielleicht bringt das irgendwann mal ein Dichter auf die Bühne." Vorläufig muss er sehen, wie viel sein Theater sparen soll.

© SZ vom 02.10.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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