Wer sich die Frage stellt, ob Herbert Diess der richtige Chef ist für Volkswagen, der hat ein Problem: Aus welcher Perspektive soll man das beurteilen? Denn die Interessen bei Volkswagen sind vielfältig und komplex. Da ist zum einen das Geschäft selbst - der größte Autohersteller der Welt verkauft jedes Jahr Autos und Lastwagen im Wert von 230 Milliarden Euro. Da sind zum anderen die Eigentümerfamilien - ihr Vermögen steigt dank der hohen Dividenden jedes Jahr um mehrere Hundert Millionen Euro: Da sind des Weiteren die 640 000 Mitarbeiter, ein beträchtlicher Teil von ihnen in Deutschland. Und da gibt es noch das Bundesland Niedersachsen, das als Großeigentümer ebenfalls von der Rendite und von den Arbeitsplätzen profitiert. Und schließlich sind da noch Millionen Autobesitzer, deren Dieselautos vielleicht bald nicht mehr fahren dürfen, weil der Konzern schlechte Abgasanlagen verbaut hat - will VW dieses hausgemachte Problem beheben, gefährdet das den Gewinn des Konzerns, die Jobs der Mitarbeiter und die Rendite der Eigentümer.
VW-Chef zu sein: Das ist ein verdammt anspruchsvoller Job, der zahlreiche Zielkonflikte birgt. Matthias Müller hat in den vergangenen zweieinhalb Jahren vieles erreicht: Er hat den riesigen Laden nach der Dieselkrise wieder auf Spur gebracht. Ohne große Kündigungen, stattdessen sprudeln Milliardengewinne.
Diess spricht von Mitverantwortung in der Diesel-Affäre
Es spricht viel dafür, dass Herbert Diess das weiterführen kann - und vielleicht sogar noch besser machen kann. Als er von BMW zu Volkswagen wechselte, vor zweieinhalb Jahren, da lag die Marke VW, der Hersteller von Golf und Passat, darbend da. Mit zu viel Aufwand, also auch zu vielen Arbeitern im Vergleich zur Konkurrenz, baute das Unternehmen zu wenig Autos. Diess verbesserte das Verhältnis - und machte damit die wichtigste Marke des Konzerns rentabler. Diess hat bei Volkswagen zudem gelernt, behutsam aufzutreten - nach außen, aber auch nach innen.
Er spricht mittlerweile selbstkritisch davon, dass er persönlich früher hätte erkennen müssen, dass Diesel-Autos in der Realität schmutziger sind als auf dem Papier, er spricht von Mitverantwortung. Solche Worte bringen Ruhe in die aufgeregte Diskussion um Fahrverbote und Kunden, die sich betrogen fühlen.
Am Anfang seines Engagements als VW-Markenchef hatte es dagegen beinahe ohne Unterlass gekracht zwischen ihm und der mächtigen Gewerkschaft IG Metall. Böse und ganz böse Worte fielen. Mangelnde Sozialkompetenz unterstellten die Arbeitnehmervertreter dem schroff auftretenden Arbeitgeber Diess. In einem auf Konsens eingestellten Unternehmen wie Volkswagen ist das gewissermaßen die Note mangelhaft. Doch Diess lernte dazu: Effizienz ist wichtig, Absprachen sind wichtiger. Es war die Grundlage für seinen Aufstieg jetzt.
Zu viele reden mit in Wolfsburg
Aber man kann es auch so sehen: Indem Diess nun sogleich einen der obersten Betriebsräte zu seinem Personalchef macht, hat er ein Arrangement getroffen, das genau auf die alten Strukturen setzt. Auf die Strukturen, die Volkswagen so unbeweglich haben werden lassen und die den Konzern auch in den Dieselskandal getrieben haben. Zu viele reden mit in Wolfsburg, um wirklich frei und transparent entscheiden zu können.
Eigentlich war Diess unbelastet, ein Neuanfang, kein Teil des Old-Boys-Netzwerkes, das in Wolfsburg alles bestimmt. Aber nun ist er doch eingeknickt. Die Netzwerke und das Vetorecht von Arbeitnehmern, Politik und Eigentümern sind zu stark, um sie zu umgehen.
Für ihn führt das Mitmachen im alten System nun zum Chefposten. Und kurzfristig sind damit die 640 000 Jobs sicher und auch die Renditen dürften weiter steigen, zum Wohle des Landes Niedersachsen und der Eigentümerfamilien. Ob dies den Konzern Volkswagen allerdings schneller macht und offener, mithin also stabiler für die Zukunft, ist sehr fraglich.