Hauptversammlungen großer Konzerne sind seltsame Massenveranstaltungen. Manchmal sind sie spannend und turbulent, manchmal zäh und grau wie ein alter Rinderschmorbraten. Man sieht sich, man redet miteinander, man horcht mal wieder rein in die Firma, in die man Geld investiert hat. So vergehen endlose Stunden. Für die Aktionäre gibt es - je nachdem, wo man gerade ist - mal Weißwürste mit Brezn, mal Kartoffelsuppe mit Bockwürsten, und in den Zentralen der Konzerne sitzen Zyniker, die meinen, dass viele Kleinaktionäre eh nur wegen des warmen Leberkäses und der alten Kollegen vorbeikämen. Die Hauptversammlung als Schlecht-Wetter-Alternative zum Schrebergartenplausch sozusagen.
Wenn es interessant läuft, stellen gut informierte Aktionäre komplizierte Fragen zur Konzernstrategie. Manchmal kritisieren Aktionäre aber auch nur, dass ihre Vorstände und Aufsichtsräte zu viele Anglizismen benutzten. Und es gibt Leute, die wollen per Handschlag begrüßt oder geduzt werden, weil dies das Mindeste sei, was man von den Vertretern seiner Firma erwarten könne. Dann wird so eine Hauptversammlung eher komisch. Meistens wissen Aufsichtsratsvorsitzende vorher, was sie erwartet. Ob es eher strategisch wird oder eher komisch. Und meistens wissen auch die Aktionäre schon vorher, wer und was da auf sie zukommt - wer da oben auf dem Podium sitzt und ihnen etwas erzählt.
Keiner der Beteiligten weiß, was auf ihn zukommt
An diesem Dienstag findet in Hannover eine Hauptversammlung statt, bei der keiner der Beteiligten weiß, was ihn erwartet. Der, der am Morgen um zehn Uhr das Treffen in Halle 2 des Messegeländes eröffnen wird, weiß vorher nicht, wie es laufen wird. Nur so viel: Komisch wird es bestimmt nicht. Und die, die dann vor ihm sitzen werden, wissen es auch nicht.
Denn zum ersten Mal ist der Chefkontrolleur, der da für den 200-Milliarden-Euro-Umsatz-Konzern Volkswagen spricht, kein Manager und auch kein Groß-Eigentümer. Sondern ein Gewerkschafter. Verkehrte Welt also, diese VW-Welt.
Berthold Huber, 65, ist seit dem 25. April Aufsichtsratsvorsitzender des größten deutschen Industriekonzerns. Seit jenem Tag also, an dem der langjährige VW-Patriarch Ferdinand Piëch und seine Frau Ursula den Aufsichtsrat verlassen haben. Aber das allein ist es nicht.
Lässt Ferdinand Piëch doch noch das Fallbeil sausen?
Der Schwabe Huber, Ex-IG-Metall-Chef und einer von zehn Vertretern der Arbeitnehmer im Aufsichtsrat, mag zwar nun der kommissarische Chefkontrolleur sein, hinter dem Arbeitnehmer und Kapitaleigner stehen, die Betriebsräte genauso wie die Familienaktionäre. Am Dienstag aber muss er vor die Aktionäre treten. Kleinaktionäre, Großaktionäre, Fondsvertreter, Anlegerschützer. Möglich, dass die ausgerechnet von ihm, dem IG Metaller, wissen wollen, warum VW in den USA schwächelt und warum die Stammmarke Volkswagen so wenig Rendite abwirft. Die eigentliche Frage an diesem Dienstag aber ist eine ganz andere. Huber wird erklären müssen, was so noch nie im Zusammenhang erklärt wurde: Was ist in den vergangenen drei Wochen eigentlich genau passiert? Was waren das für seltsame Verspannungen zwischen Wolfsburg und Salzburg? Nur ein einziger Satz des damaligen Aufsichtsratsvorsitzenden Piëch über seinen Vorstandschef Martin Winterkorn ("Ich bin auf Distanz zu Winterkorn") hatte den Konzern ins Wanken gebracht, hatte einen Machtkampf ausgelöst, der VW tagelang lähmte und der möglicherweise noch längst nicht ausgestanden ist. Warum konnte dieser Machtkampf so eskalieren? Und vor allem: Wie geht es nun weiter? Mit Huber, mit Winterkorn, und - ja, auch das - mit Piëch? Im Konzern rätseln sie seit Tagen: Piëch, der Mann ohne Amt, ist nach wie vor Aktionär - kommt er nun zur Manöverkritik vorbei?
Nimmt er mit den anderen Aktionären erst einen Teller aus der Gulaschkanone und macht sich dann ans Werk? "Guillotinieren" werde er erst später, hat er mal in einem anderen Zusammenhang gesagt.
Saust das Fallbeil jetzt in Hannover nieder?
Der Machtkampf ist vorbei, der Schwebezustand nicht
Drei Wochen lang war VW wegen des Machtkampfes in einer Art Schwebezustand. Jetzt wurde der durch einen anderen Schwebezustand ersetzt. Am Montag meldeten sich Juristen zu Wort, ihnen zufolge könnte Piëch laut VW-Satzung - zumindest formalrechtlich - noch VW-Aufsichtsrat sein. "Die VW-Satzung sieht vor, dass eine Amtsniederlegung nur mit einer Frist von vier Wochen erfolgen kann", meint Professor Ulrich Noack vom Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Handels- und Wirtschaftsrecht an der Düsseldorfer Heinrich-Heine-Universität. Piëch sei jedoch erst am 25. April als VW-Aufsichtsratsvorsitzender zurückgetreten. Für einen solchen Schritt bräuchte es einen gewichtigen Grund, so Noack. Dieser aber sei "zumindest öffentlich bislang nicht genannt worden".
Huber, der IG Metaller, will sich Zeit nehmen für die Nachfolgeentscheidung, aber nicht zu viel. Rund ein halbes Jahr, schätzen Insider, will er sich höchstens an der Spitze des Aufsichtsrates geben. Die Frage ist: Wie lange kann so etwas gut gehen in einem Konzern, der zur Hälfte von zwei Clans, den Familien Porsche und Piëch, vom Bundesland Niedersachsen, vom Emirat Katar und von Betriebsräten kontrolliert wird? Ein bisschen Familiendynastie, ein bisschen Landespolitik, viele Betriebsräte, die Scheichs aus der Wüste - und ganz oben Berthold Huber, der das alles in den kommenden Monaten zusammenhalten soll. Eine interessante Mischung.
Wie speziell diese Melange ist und wie sehr sie den alten Konzern verändern könnte, zeigt nicht nur der Vergleich mit der Ära des Aufsichtsratsvorsitzenden und Patriarchen Piëch, der VW immerhin 13 Jahre mehr beherrschte als kontrollierte. Auch ein Blick in die Ahnengalerie zeigt, wer früher im Aufsichtsrat den Ton angab: Groß-Manager, Industriekapitäne, Bonner Ministerialdirigenten. Kurz: die Strippenzieher der Deutschland AG.
Eine rasche Nachfolger-Suche gilt als ziemlich ausgeschlossen
Heinz Maria Oeftering zum Beispiel, er war in den Fünfzigerjahren der erste, der das Gremium führte. Präsident des Bundesrechnungshofes, Vorstandsvorsitzender der damaligen Deutschen Bundesbahn und Multi-Aufsichtsrat. Oder Klaus Liesen, Piëchs Vorgänger von 1987 bis 2002. Damals auch Chefkontrolleur beim Versicherungskoloss Allianz, einer, den man zu den einflussreichsten Managern der Deutschland AG zählte. Oder Hans Birnbaum. Der frühere Chef des niedersächsischen Stahlkonzerns Salzgitter führte das Gremium von 1974 bis 1979.
Jetzt also Huber. Dass sie schon in diesen Tagen einen Nachfolger für den Übergangsmann finden, gilt als ziemlich ausgeschlossen. Um den Zeitplan gehe es nun erst einmal, nicht um Entscheidungen, heißt es bei VW. Vergangene Woche wurden die beiden Piëch-Nichten Louise Kiesling, 57, und Julia Kuhn-Piëch, 34, als Ersatz für Piëch und seine Ehefrau bestellt - am Montag absolvierten die beiden ihre erste VW-Aufsichtsratssitzung. Die Frage aber - wer soll Huber eines Tages nachrücken? - ist damit nicht geklärt. Einige meinen, der Ex-BMW-Mann und heutige Continental-Aufsichtsratschef Wolfgang Reitzle sei der Mann der Stunde. Der Automanager und Ex-Linde-Boss Reitzle hätte mit den Haudegen früherer VW-Epochen vielleicht noch am meisten gemein.
Aber: Lässt Conti ihn gehen? Und wollen ihn die Arbeitnehmer in Wolfsburg? Auch Martin Winterkorn, der amtierende Vorstandschef, käme nach dem Rückzug von Piëch wieder in Frage. Und dann ist da noch Wolfgang Porsche, 71. Clanchef aus Salzburg, Milliardenerbe, Hobby-Biobauer, ehemaliger Waldorfschüler und seit Jahren so etwas wie der weiche Kontrapunkt zum Cousin Ferdinand Piëch. Spätestens seit der Übernahme von Porsche durch VW vor sechs Jahren haben die beiden ein paar große Rechnungen offen, und dass sich ausgerechnet "WoPo", wie er im Konzern genannt wird, gegen seinen allmächtigen Cousin gestellt hat, könnte ein Zeichen sein. Der jüngere der beiden Cousins hat sich nach all den Jahren emanzipiert.
"WoPo" an der Spitze des VW-Aufsichtsrates, für Ferdinand Piëch wäre dies die größte anzunehmende Niederlage.