Vorbild Schweiz:Last und Lust, ein Außenseiter zu sein

Schweiz, Fahne, Matterhorn

Schweizer Flagge vor dem Matterhorn. Das Verhältnis zwischen der Schweiz und der Europäischen Union ist kompliziert.

(Foto: Valentin Flauraud/dpa)

Wie die Schweizer ihre Rolle in Europa suchen, ohne Mitglied der EU zu sein.

Von Charlotte Theile, Zürich

Noch im November sei er in Großbritannien gewesen und habe mögliche Risikoszenarien für den Finanzplatz diskutiert, sagt Peter Schwendner, Wirtschaftsdozent an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften. "Von einem Brexit hat da noch niemand gesprochen." Jetzt, nur wenige Monate später, steht die Abstimmung über den Verbleib der Briten in der EU kurz bevor. Ein Großteil der Experten erwartet schwerwiegende Folgen für den Finanzplatz London, in Frankfurt spekuliert man bereits auf eine Verlagerung britischer Arbeitsplätze an den Main. Auch in der Schweiz gibt es diese Rechenbeispiele: Wenn nur zwei Prozent der 700 000 Angestellten in der Londoner Finanzbranche in die Schweiz verlagert würden, wäre das erheblich.

Dabei könnte man aus Schweizer Perspektive auch ganz anders argumentieren. Schließlich steht das kleine Land mitten in Europa seit jeher außerhalb der Europäischen Union - und hat dennoch eine starke Position im internationalen Finanzgeschäft behaupten können. Großbritannien und die Schweiz ähneln sich gewissermaßen: Beide exportieren Dienstleistungen, sind somit besonders stark auf gute Vernetzung angewiesen. Der Schweiz ist das gut gelungen, seitdem sie sich 1992 per Volksabstimmung gegen einen Beitritt zum europäischen Wirtschaftsraum ausgesprochen hat. Sie hat bilaterale Verträge mit der EU geschlossen, viele Standards übernommen und sich doch ihre Unabhängigkeit bewahrt. "Der bilaterale Weg" gilt als Erfolgsformel des Landes. Wäre er nicht ein Vorbild für die Briten?

Kapitalmarkt-Experte Peter Schwendner hält diese Analogie für leichtfertig. "Auch die Schweizer müssen große Anstrengungen unternehmen, um ihren Banken Export-Möglichkeiten zu geben", sagt er. So baut die Schweiz derzeit ihr Finanzmarktrecht um. Die neuen Gesetze sollen zu mehr Transparenz und mehr Anlegerschutz führen - und sie sind, wie auch der automatische Informationsaustausch oder die Weißgeldstrategie, eine Angleichung an die europäischen Standards. Die Unabhängigkeit besteht hier oft nur noch auf dem Papier. Die EU bildet den wichtigsten Außenmarkt für die Schweizer, und um dort bestehen zu können, müssen sie sich anpassen. Andernfalls, das betonen Schweizer Bankiers in seltener Einigkeit, kämen ernste Probleme auf den Finanzplatz zu. "Die Schweiz hat hier in den vergangenen Jahrzehnten sehr geschickt verhandelt und ein komplexes Geflecht von Verträgen geschaffen", sagt Wirtschaftsdozent Schwendner.

Auch ohne EU-Mitgliedschaft haben sich die Schweizer also gut in den gemeinsamen Markt eingebunden. Schwendner ist überzeugt: Wenn Großbritannien die Mitgliedschaft in der EU aufkündigen würde, wären die Vorzeichen völlig andere. Großbritannien müsste unter Zeitdruck verhandeln, die Öffentlichkeit würde genau hinschauen. Schwendner glaubt nicht, dass allzu gute Bedingungen für die Briten heraussprängen.

Bis zur britischen Abstimmung hat Brüssel keine Zeit für Bern

Für die Schweiz wird ihre Sonderrolle in Europa zunehmend kompliziert. Das Land hatte sich nach dem frühen Nein zur EU eine starke Verhandlungsposition gesichert. Selbst bei der Umsetzung von Volksinitiativen, die in Brüssel schwer verdaulich waren, konnte das Land mit Geduld und Diplomatie viele Konflikte lösen. Doch diese Einigungsprozesse waren kräftezehrend - und funktionierten vor allem als Sonderregelungen, als Ausnahmen.

Das mussten die Schweizer im Februar erkennen, als die EU die ohnehin schon schwierigen Verhandlungen über die Personenfreizügigkeit ruhen ließ. Die Schweiz hat in Brüssel derzeit keine Priorität. Mit dem Referendum der Briten im Rücken will man keinen Präzedenzfall schaffen; die Gespräche müssen bis zum 23. Juni warten. Der Berner Bundesrat geriet unter Zeitdruck - und war in der Folge zu einer undiplomatischen Reaktion gezwungen: Er kündigte an, den Wunsch der Bürger nach einer Begrenzung der Zuwanderung notfalls auch einseitig umzusetzen, mithilfe einer Schutzklausel. Was bleibt, ist Unsicherheit. In der Schweiz ist man das ständige Aushandeln und Austarieren gewohnt, sagt Sindy Schmiegel von der schweizerischen Bankiervereinigung, auch, dass ein Volksvotum alles durcheinanderbringen kann. Nun sei es für die Schweizer ganz interessant, auch einmal von außen beobachten zu können "wie schwierig erfolgreiches Unternehmertum angesichts offener Volksvoten ist."

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