Vor der Abstimmung über den ESM:So funktioniert der Rettungsschirm

Es ist eine Grundsatzentscheidung für die Deutschen: Sind sie bereit, eine noch größere Rolle bei der Finanzierung der europäischen Schuldenkrise zu übernehmen und dafür auch Souveränität abzugeben? Am Freitag entscheidet der Bundestag über den Rettungsschirm ESM. Der kann viel - und kostet viel.

Simone Boehringer

Der Streit um die wohl wichtigste wirtschaftspolitische Richtungsentscheidung seit Einführung des Euro ist eskaliert: Wenn am Freitag voraussichtlich eine deutliche Mehrheit der Abgeordneten im Bundestag den ESM-Gesetzen zustimmt, geht der Kampf um das richtige Vorgehen in der Schuldenkrise erst richtig los. Das Bundesverfassungsgericht hat sich in Erwartung einiger Klagen von Kritikern der Euro-Rettungspolitik von der Bundesregierung Bedenkzeit erbeten und den Bundespräsidenten Joachim Gauck aufgefordert, das ESM-Gesetz vorerst nicht zu unterschreiben.

Bundestag Abstimmung über Euro-Rettungsschirm

September 2011: Parlamentarier stimmen im Bundestag über den Euro-Rettungsschirm ab. Diesen Freitag wird erneut entschieden.

(Foto: dpa)

Im Kern geht es bei der Auseinandersetzung darum, ob die umfangreichen Hilfszusagen und Garantien, die Deutschland mit dem ESM für die Gemeinschaft gibt, die Budgethoheit des deutschen Parlaments aushebeln. Der deutsche Anteil am maximalen Garantievolumen allein für den ESM und seinen befristeten Vorläufer EFSF beläuft sich auf gut 400 Milliarden Euro. Zum Vergleich: Die Steuereinnahmen des Bundes lagen 2011 bei etwa 250 Milliarden Euro.

Kurz vor der Abstimmung fasst die SZ noch einmal die wichtigsten Fragen und Antworten zum ESM zusammen:

[] Was unterscheidet den ESM von bisherigen Kreditmechanismen?

Anders als die Rettungsschirme zuvor ist der ESM auf Dauer angelegt und soll ein eigenes Kapitalpolster von 80 Milliarden Euro bekommen, das die Mitgliedsstaaten über fünf Jahre verteilt sukzessive einzahlen müssen. Der ESM hat zudem ein eigenes Entscheidungsgremium, den Gouverneursrat, der weitgehend ohne Rücksprache mit den 17 nationalen Regierungen der Euro-Länder agieren kann. Die 17 Mitgliedsstaaten entsenden ihre jeweiligen Finanzminister in dieses Gremium und bestimmen auch noch jeweils deren Stellvertreter. Die Gouverneure wählen zudem noch ein genauso groß besetztes Gremium an Direktoren und deren Stellvertretern aus. Diese sollen die Arbeit der Gouverneure operativ unterstützen und diese gleichzeitig kontrollieren.

[] Wie viel Geld darf der ESM ausleihen?

Das maximale Kreditvolumen ist zunächst auf 500 Milliarden Euro beschränkt. Dazu benötigt der ESM ein Stammkapital von 700 Milliarden Euro, aufgeteilt in 80 Milliarden Euro, die von den Mitgliedsstaaten als Basis über fünf Jahre einbezahlt werden sollen, und einem Bürgschaftsvolumen von 620 Milliarden Euro. Der Gouverneursrat kann jedoch nach Rücksprache mit den nationalen Parlamenten beschließen, den Kapitalrahmen zu erhöhen und dann entsprechend Nachzahlungen fordern. Eine harte juristische Grenze gibt es hier nicht, allerdings eine ökonomische: Wenn der ESM oder die Mitglieder am Kapitalmarkt für neue Anleihen keine oder nur zu sehr hohen Zinsen Investoren finden, wird die Refinanzierung des ESM für neue Hilfskredite praktisch unmöglich.

[] Was bedeutet das für die deutschen Steuerzahler?

Alle Mitgliedsstaaten beteiligen sich gemäß ihren Anteilen an der Europäischen Zentralbank (EZB) am ESM. Im Falle Deutschlands sind das etwa 27 Prozent. Daraus errechnet sich ein Haftungsumfang der Bundesrepublik von 190 Milliarden Euro. Sollte allerdings eines oder mehrere Euro-Länder als Zahler ausfallen, etwa weil sie selbst Finanzhilfen benötigen, erhöht sich entsprechend die Last der anderen. Neben Deutschland sind die größten Einzahler und Kreditgeber des ESM Frankreich (rund 20 Prozent) und Italien (fast 18 Prozent).

Kann der ESM noch gestoppt werden?

[] Wer kann Geld vom Fonds bekommen?

Grundsätzlich jedes Euro-Land, das unter schweren Finanzierungsproblemen am Kapitalmarkt leidet, sowie auch Banken, wenn diese groß sind und ihre Risiken als unbeherrschbar gelten (Systemrelevanz). Allerdings müssen die entsprechenden Regierungen einen Antrag auf Hilfen für sich oder ihre Geldhäuser stellen. Die ESM-Kredite sollen nur dann genehmigt werden, wenn die Empfängerländer im Gegenzug Sparprogramme durchziehen beziehungsweise Sanierungspläne für ihre Banken vorlegen.

[] Wer entscheidet über die Hilfen?

Der Gouverneursrat des ESM entscheidet, ob einem klammen Euro-Land Finanzhilfen gewährt werden. In einigen Staaten, darunter Deutschland, muss sich der Gouverneur, der ja gleichzeitig Finanzminister ist, vor der Abstimmung ein Mandat des Parlaments holen. Dies gilt allerdings nach bisherigem Stand nicht für den Fall, dass unvorhergesehen Kapitallücken beim ESM auftreten, etwa weil ein Mitgliedsland seinen Beitrag nicht leisten kann oder der ESM aus anderen Gründen Verluste macht, die dringend ausgeglichen werden müssen. Hier ringen die Experten in den Ausschüssen des Bundestages bis zuletzt um die Details der Parlamentsbeteiligung.

[] Wie ist der weitere Zeitplan?

Noch am Freitagabend, kurz vor der parlamentarischen Sommerpause, soll der Bundestag über vier Gesetze im Zusammenhang mit der Euro-Rettung abstimmen: Dem ESM-Zustimmungsgesetz, dem ESM-Finanzierungsgesetz, dem Fiskalpakt, der der Schuldenfinanzierung des Bundeshaushalts enge Grenzen setzt, und dem Änderungsgesetz zu den Europäischen Verträgen, das die bisherige Nichtbeistandsklausel für die Schulden anderer (No-bail-out) praktisch außer Kraft setzt. Denn nach dem Gesetz ist die gemeinschaftliche Übernahme von Verbindlichkeiten Einzelner sehr wohl erlaubt, wenn ansonsten die Stabilität des Währungsgebiets gefährdet wäre. Ein Risiko, das für fast alle bisherigen Rettungsmaßnahmen für Euro-Staaten galt.

[] Kann der ESM noch verhindert werden?

Bis auf etwa ein Dutzend Abweichler in den Reihen der Regierungskoalition und einem Veto der Fraktion der Linken kann Bundeskanzlerin Angela Merkel mit einer breiten Mehrheit für den ESM rechnen. Allerdings sind bereits mehrere Verfassungsbeschwerden angekündigt. Die Beschwerdeführer wollen neben der Hauptklage gegen den ESM auch Anträge auf eine einstweilige Anordnung stellen. Wie die SZ erfuhr, wird es darum gehen, die Ratifizierung der Gesetze durch den Bundespräsidenten bis zur Entscheidung im Hauptsacheverfahren hinauszuzögern. Dazu müssten die Richter Joachim Gauck die Unterzeichnung der Gesetze bis zum ESM-Urteil untersagen.

[] Was würde passieren, wenn das Verfassungsgericht den Beschwerden stattgibt?

Sobald der Bundespräsident das Gesetzespaket unterzeichnet, ist Deutschland völkerrechtlich an den ESM gebunden. Ein späteres Urteil zugunsten der Kläger könnte daher faktisch an der Rechtslage wenig ändern, sagen führende Verfassungsrechtler. Demnach stehen und fallen die Erfolgschancen der Beschwerdeführer gleich mit der Entscheidung über die einstweilige Anordnung. Das spätere Hauptsacheverfahren, in dem es im Wesentlichen darum gehen wird, ob der ESM das Budgetrecht des Bundestages aushöhlt oder nicht, bliebe nur relevant, solange Gauck nicht unterschreibt.

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