Süddeutsche Zeitung

Deutschland:Arbeitskräfte werden knapp

  • Insgesamt gab es im dritten Quartal 2018 mehr als 1,2 Millionen offene Stellen; fünf Jahre zuvor waren es nur 763 000.
  • Während 2017 nur noch zwei Arbeitslose auf eine offene Stelle kamen, waren es 2005 mehr als zehn.
  • Weil es viel weniger Arbeitslose gibt als früher, wird heute mehr als jede zweite offene Stelle von jemandem besetzt, der schon einen Arbeitsplatz hat.

Von Susanne Höll, Henrike Rossbach, Jan Willmroth und Markus Zydra

Kurz vor Weihnachten sitzen zwei Herren in dem stets sehr ansehnlich dekorierten Bettenladen unweit des Goethehauses in Frankfurt am Main und verstehen die Welt nicht mehr. Monatelang hatte der auf Naturmaterialien spezialisierte Matratzenhersteller Hüsler Nest nach einem Fachverkäufer gesucht, der das eingeführte Geschäft in der Innenstadt selbständig leiten sollte. Die bisherige Mitarbeiterin hatte gekündigt, sie kam aus dem Umland und hatte genug von der oft mühseligen und zeitraubenden Pendelei in die City.

Das Angebot war gut, und je länger Hüsler niemanden fand, desto mehr Extras versprach das Unternehmen: unbefristeter Vertrag, Vollzeit, ein Gehalt von deutlich mehr als 3000 Euro, einen 13. Monatslohn, sogar Bonus und Fahrtkostenzuschuss bot Hüsler an. Man suchte per Arbeitsamt, engagierte zwei private Vermittler. Wird schon klappen, sagte man sich bei Hüsler.

Aber es kam kein einziges Bewerbungsgespräch zustande, keine Dame, kein Herr habe sich für den Job interessiert, sagt Vertriebschef Jens Simic und zuckt mit den Schultern. Die einzigen Bewerbungen seien von Leuten gekommen, die bislang Handy-Verträge verkauft hätten. Für den Produzenten eher kostspieliger Matratzen waren das nicht die idealen Anwärter.

Deshalb ist Simic in der Weihnachtszeit an den Main gekommen - der Laden wurde geschlossen. Verbliebene Accessoires wurden zu Schnäppchenpreisen verkauft, nach den Feiertagen war Schluss. Leider. Denn man hätte das Geschäft nur zu gern weitergeführt, schließlich sei es profitabel gewesen. Wer sich in Frankfurt für eine Matratze des Schweizer Herstellers interessiert und probeliegen will, muss nun nach Mainz, Darmstadt oder Gelnhausen fahren. So sieht der Fachkräftemangel im Rhein-Main-Gebiet aus.

Vor allem im Verkehr, Bau und in der Pflegebranche fehlen fähige Arbeitskräfte

Er ist symptomatisch für die Situation in weiten Teilen Deutschlands: Nach neun Jahren des Aufschwungs sind die Arbeitskräfte knapp geworden. Im Wettbewerb um Fachkräfte finden Firmen vielerorts keine geeigneten Bewerber mehr, warten immer länger, bis eine Stelle besetzt ist, können kaum noch expandieren, weil ihre Belegschaft längst ausgelastet ist. In vielen Regionen bewegt sich die Wirtschaft am Rande der Vollbeschäftigung.

Was für ein Umbruch! Jahrzehntelang stand die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit im Mittelpunkt politischer Anstrengungen. Jetzt steht die demografische Entwicklung im Vordergrund und damit die Frage, wie Deutschland in den kommenden Jahren und Jahrzehnten seinen Bedarf an Arbeitskräften noch decken kann. Die geburtenstarken Jahrgänge gehen peu à peu in Rente und Pension, die folgenden Alterskohorten haben deutlich niedrigere Geburtenziffern, und ohne geregelte Zuwanderung, das ist gewiss, wird die Lücke nicht zu schließen sein.

Seit dem Wirtschaftswunder in den 60er-Jahren hatten es Bewerber nicht mehr so leicht, mit einer ordentlichen Ausbildung eine Stelle zu finden. Damit ist natürlich noch nichts über die Bezahlung gesagt. In einigen Berufen sind die Gehälter weiter extrem niedrig, obwohl Mangel herrscht. Das schreckt Bewerber ab. Zudem wollen immer mehr junge Leute studieren, ins Handwerk zieht es nur wenige. Jahr für Jahr bleiben mehr Ausbildungsplätze unbesetzt.

Experten der DZ Bank beschreiben in einer Studie die wesentlichen Gründe für die Schwierigkeiten, offene Stellen zu besetzen: Es gebe zu wenige Bewerber, und die wenigen seien oft unzureichend beruflich qualifiziert. Betriebe müssten immer öfter Aufträge schieben oder ganz ablehnen, weil qualifizierte Kräfte fehlen, was dem Wachstumspotenzial der ganzen Volkswirtschaft schade.

Verkehr, Bauhandwerk und Pflegebranche seien besonders betroffen. Allerdings seien die Engpässe in Deutschland ungleich verteilt. In Bayern und Baden-Württemberg kämen die wenigsten Arbeitslosen auf die freien Stellen, und die Vakanzzeiten lägen in diesen Bundesländern überdurchschnittlich hoch.

Über dem Durchschnitt liegt auch jene oft übersehene Region, in der Jan Scheftlein arbeitet. Als stellvertretender Hauptgeschäftsführer der IHK Südthüringen in Suhl erlebt er seit Jahren, wie sich die Klagen der dort ansässigen Mittelständler häufen. In der jüngsten Umfrage sagten 72 Prozent der Unternehmen in dem Kammerbezirk, ihnen fehlten Fachkräfte. Das Potenzial, das die Bevölkerung vor Ort den Unternehmen biete, sei weitgehend ausgeschöpft, viel mehr als eine Umwandlung von Teilzeit- in Vollzeitstellen sei vielerorts nicht mehr drin. Ohne weitere Zuwanderung gehe es nicht mehr, sagt Scheftlein: "Ein Stück weit sind wir Opfer unseres eigenen Erfolgs geworden."

Die Unternehmen im Süden Thüringens reagieren ähnlich wie das Bettengeschäft in der Frankfurter Innenstadt: Sie übernehmen Kosten für Fortbildungsprogramme, versprechen mehr Urlaubstage, zahlen Prämien oder finanzieren Kitaplätze. "Inzwischen benutzen die Firmen die gesamte Klaviatur an Möglichkeiten, um Arbeitskräfte zu gewinnen", sagt Scheftlein.

Auch die Landesregierung verspricht Unterstützung: Im April reist eine thüringische Delegation nach Vietnam, auch um dort für Berufsausbildungen in Thüringen zu werben. Bereits seit drei Jahren beginnen 40 vietnamesische Jugendliche pro Jahr eine Ausbildung in der Kammer, erzählt Scheftlein, innerhalb einer halben Stunde seien sie jedes Jahr verteilt. Bei derzeit 3,5 unbesetzten Stellen je thüringischem Betrieb ist Platz für deutlich mehr.

Die Deutschen ziehen nicht so gerne um

So extrem die Lage in Südthüringen ist, so groß sind die regionalen Unterschiede. "Einen flächendeckenden Fachkräfteengpass gibt es nicht", sagt Alexander Kubis vom Institut für Arbeitsmarkt und Berufsforschung (IAB). Er ist für die IAB-Stellenerhebung zuständig und sieht Monat für Monat, wo sich Lücken auftun zwischen Angebot und Nachfrage. Knapp seien Arbeitskräfte vor allem in den Gesundheitsberufen, gesucht werden Meister im Handwerk, Techniker, Ingenieure. "Aber es gibt auch immer noch viele Arbeitslose in anderen Berufen", sagt Kubis. Langzeitarbeitslose hätten es weiter schwer, Fuß zu fassen, auch wenn sich deren Zahl in neun Jahren Aufschwung deutlich verringert habe.

Bei Helfern kämen 445 Arbeitslose auf 100 offene Stellen, bei Fachkräften nur 144. Insgesamt gab es im dritten Quartal 2018 mehr als 1,2 Millionen offene Stellen; fünf Jahre zuvor waren es nur 763 000 gewesen. Und während 2017 nur noch zwei Arbeitslose auf eine offene Stelle kamen, waren es 2005 mehr als zehn. Ende vergangenen Jahres lag die Arbeitslosigkeit in Deutschland bei 4,9 Prozent.

Dass Arbeitslose und offene Stellen nicht immer zueinander finden, liege unter anderem an der geringen regionalen Mobilität in Deutschland, sagt Kubis. Die Deutschen ziehen nicht so gerne um. Hinzu kommt die sogenannte friktionelle Arbeitslosigkeit: Irgendjemand ist immer zwischen zwei Jobs. Und Ungelernte in Fachkräfte zu verwandeln, ist weder einfach, noch geht es schnell. Eine Arbeitslosigkeit von null gibt es deshalb noch nicht einmal in der Theorie.

Und dann ist da noch eine klassische Diskrepanz zwischen Konzernen und Betrieben: Generell hätten es große Unternehmen mit bekannten Namen leichter, genug gute Leute zu bekommen, sagt Kubis. "Aber 94 Prozent unserer Firmen sind Kleinbetriebe." Weil es viel weniger Arbeitslose gibt als früher, wird heute mehr als jede zweite offene Stelle von jemandem besetzt, der schon einen Arbeitsplatz hat.

Zum einen verlängert das die Suchzeiten für Unternehmen. "Zum anderen führt es dazu, dass die Ansprüche der Arbeitnehmer steigen, weil sie sich aus einer sicheren Position heraus bewerben", sagt Kubis. Oder sie bewerben sich überhaupt nicht, so wie im Fall des Hüsler-Nest-Geschäfts in Frankfurt. Inzwischen sind die Fenster zugeklebt, es wird renoviert, bald eröffnet die Filiale einer vegetarischen Restaurantkette in den Räumen. Das Essen werden ungelernte Aushilfskräfte servieren.

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SZ vom 11.02.2019/dit
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