Süddeutsche Zeitung

Volkswagens neuer Chef:Müllers Abkehr von den Alten

Lesezeit: 3 min

Von Thomas Fromm, Klaus Ott und Max Hägler, Stuttgart

Es gibt einen Satz in dieser Rede in Leipzig, der am deutlichsten zeigt, was Matthias Müller anders machen will, wie er den trudelnden Volkswagen-Konzern wieder stabil bekommen möchte. Da steht der neue Konzernchef vor seinen 400 wichtigsten Managern und sagt: "Ob eine Frontscheibe ein Grad steiler steht oder nicht - damit will und werde ich mich nicht befassen!"

Für Außenstehende mag das banal klingen, für Wolfsburg ist das quasi eine Revolution. Über Jahre ist das größte deutsche Unternehmen, der größte Autokonzern der Welt von Leuten geführt worden - Martin Winterkorn und Ferdinand Piëch - die genau das gemacht haben: Sie haben sich selbst über Frontscheiben gebeugt und entschieden: ein Grad steiler, aber zackig. Volkswagen wurde durch diesen herrischen Detailismus, der kaum Widerspruch und keine Fehler duldete, ein absurdes Unternehmen. Niemand wollte richtig Verantwortung übernehmen - weil letztlich ja sowieso der Mann ganz oben entschieden hat. Dieses Denken, das sagen viele, hat Volkswagen in die Krise schlittern lassen: die Furcht vor dem gesenkten Daumen des Konzernlenkers, die Hoffnung auf ein Schulterklopfen von ihm.

Diese Furcht, dieses Hoffen haben, so scheint es bislang, dazu geführt, dass ein noch genauer zu bestimmender Kreis von Ingenieuren und Managern am Dieselmotor EA 189 illegal herumgedreht hat: Sie wollten nicht als unfähig dastehen, wünschten sich vielmehr Anerkennung. Auch zum Preis von Betrügereien und Gesetzesverstößen.

Müller will mit der One-Man-Show brechen

Das nun will Müller radikal umkehren, er will den ganzen Konzern umkrempeln. "Wir müssen diesen Konzern neu ausrichten", sagt er, was zuvorderst heißt: Er will brechen mit der One-Man-Show. Auf dem Werksgelände in Leipzig spricht er von Miteinander, beschwört seine Truppe, dass sie mehr "Schneid" brauche, auch Mut zum Scheitern: "Offenheit wünsche ich mir!" Das Führungsverständnis, der Umgang mit Fehlern, der Umgang untereinander, ja letztlich müsse sich so ziemlich alles ändern - bis auf die technische Expertise. Und er sagt: "Ich jedenfalls will meinen Beitrag leisten, dass wir künftig anders, nämlich auf Augenhöhe zusammenarbeiten."

"Ich jedenfalls" - das sagt auch viel aus. Müller ist sich im Klaren darüber, dass er die neuen Strukturen alleine nicht hinbekommt, auch wenn er einer ist, der direkt redet, der ohne Arroganz durch Werkshallen läuft. "Meine Lebenserfahrung ist", sagt der 62-Jährige, "Strukturen sind nur dann etwas wert, wenn sie auch gelebt werden." Und fragt rhetorisch in die große Runde: "Wie bringt man einen solchen neuen Geist in eine Riesenorganisation wie Volkswagen?" In einen Konzern mit 600 000 Menschen rund um den Globus? "Mein Ansatz ist da ziemlich pragmatisch: Just do it!" Soweit zu hören ist - im Konferenzraum war kein Journalist zugegen -, hat dieser Ansatz, diese radikale Abkehr von Winterkorn und Piëch die meisten überzeugt: nach der Ansprache habe eine lebhafte, aber überwiegend wohlmeinende Diskussion begonnen.

Verkehrsminister Dobrindt wählt die harte Tour

Wobei es anspruchsvoll sein dürfte, Ruhe zu bewahren, sich auf Kultur und Strategie zu konzentrieren. Denn draußen, vor dem Werkszaun gewissermaßen, kommen an diesem Donnerstag die Einschläge näher: Die größte Krise der VW-Geschichte, die vielleicht auch die größte Krise der jüngeren deutschen Wirtschaftsgeschichte ist, wächst immer weiter. Am Vormittag, als Müller noch gar nicht im Konferenzsaal ist, wird die Lage abermals dramatischer - obwohl kaum mehr eine Steigerung möglich scheint: Bundesverkehrsminister Alexander Dobrindt (CSU) und das ihm unterstellte Kraftfahrt-Bundesamt (KBA) verpflichten Volkswagen zum Rückruf von 2,4 Millionen Fahrzeugen - so etwas hat es in dieser Größenordnung noch nicht gegeben, und mehr noch als um Autos geht es um ein Signal: Die Politik nimmt die Autoindustrie an die Kandare.

"Das ist ein Rückruf in einer Dimension, die auch das nötige Maß an Kontrolle und Überwachung nötig macht", sagt Dobrindt. Dass VW angeboten hatte, das Ganze freiwillig zu organisieren, zumindest unter der neuen Konzernführung offenbar transparent den Plan vorgelegt hat, der ein Software-Update bei dem 2-Liter-Motoren-Update vorsah und den Einbau neuer Hardware bei den kleineren Varianten - egal: Dobrindt und sein Amt wählen nun die harte Tour - dabei haben sie sich bislang nie als Umweltschützer hervorgetan.

Immerhin einen Lichtblick gibt es für VW: Das Bundesamt entzieht nicht die Betriebserlaubnis für die Autos mit diesem Motor EA 189; auch dieses schlimmste aller möglichen Szenarien haben sie seit knapp vier Wochen durchgespielt in Wolfsburg, seit die Führung erfasst hat, dass es nicht nur um eine halbe Million US-Wagen geht. Jetzt steht endgültig fest, dass nicht mehr nur die USA heißes Pflaster ist, sondern auch die Heimat.

Am Nachmittag, einige Stunden nach Dobrindts harter Ansage, verkündet der Konzern schließlich: Man werde in ganz Europa die Autos zurückrufen: 8,5 Millionen Fahrzeuge. Dazu passen die Nachrichten aus Italien, wo Ermittlungen gegen hochrangige Manager des VW-Konzerns eingeleitet wurden. Am Donnerstagmorgen kamen die Beamten in die Italien-Zentrale von VW in Verona, und sie kamen auch nach Bologna, wo die VW-Sportwagentochter Lamborghini ihren Sitz hat. Laut italienischer Staatsanwaltschaft geht es um "mutmaßlichen Betrug". Das ist in diesem Falle eine andere Formulierung für: Dieselgate. Seit diesem Donnerstag weiß Müller endgültig: Es geht um alles.

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Quelle:
SZ vom 16.10.2015
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