Süddeutsche Zeitung

Abgasskandal:Viel Lärm um viel bei Volkswagen

Lesezeit: 5 min

Von Claus Hulverscheidt, New York

Irgendjemand hatte gleich zu Beginn diese Zahl in die Welt gesetzt, und weil sie so schön schauerlich klang, wurde sie vielerorts begierlich aufgegriffen: Auf 90 Milliarden Dollar, so hieß es, habe die US-Regierung den Autobauer Volkswagen verklagt, weil dieser über Jahre die Abgaswerte seiner Dieselmotoren gefälscht habe. Angesichts eines Börsenwerts von umgerechnet nur 67 Milliarden Dollar musste man kein Nobelpreisträger sein, um zu errechnen, dass eine solche Geldstrafe für den Konzern existenzbedrohend wäre.

Die aus VW-Sicht gute Nachricht lautet: Die 90 Milliarden Dollar lassen sich in der Klageschrift weder finden noch aus ihr herleiten. Und doch schrillen in Wolfsburg zu Recht alle Alarmglocken, denn die Vorwürfe, die das Justizministerium in dem 31-seitigen Konvolut erhebt, sind so harsch, dass Experten eine Milliardenstrafe sehr wohl für denkbar halten. Die SZ beantwortet dazu die wichtigsten Fragen.

Warum kann die US-Regierung überhaupt Zivilklage gegen VW erheben?

Volkswagen verkaufte über viele Jahre in den USA Diesel-Pkw der Marken VW, Audi und Porsche, die viel mehr Abgase ausstießen als erlaubt. Damit verstieß der Konzern gegen den Clean Air Act, das Luftreinhaltungsgesetz. Zudem waren es US-Behörden, die den Skandal aufdeckten. Deshalb kann das Justizministerium VW nun straf- und zivilrechtlich verfolgen.

Was genau wirft man Volkswagen vor?

Der zentrale Vorwurf lautet, VW habe zwischen 2009 und 2015 in den USA 580 000 Diesel-Pkw ohne amtliche Betriebserlaubnis verkauft. Zwar verfügten die Autos formell über Zulassungen. Diese waren aber ungültig, weil der Konzern seine Motoren mit illegalen Softwarecodes versehen hatte, die bei Tests den Stickoxidausstoß manipulierten: Stand das Auto auf dem Prüfstand, hielt es die staatlichen Grenzwerte ein, fuhr es auf der Straße, lagen die Emissionen um bis zu 40-mal darüber. Laut Klageschrift "wusste Volkswagen oder hätte wissen müssen", dass die Software dazu diente, falsche Testergebnisse zu produzieren. VW schiebt die Manipulationen dagegen auf eine kleine Gruppe von Ingenieuren.

Welche Strafen fordert Washington?

Die Klage ist in vier Punkte unterteilt, jeder ist mit einer Strafforderung versehen. Punkt 1: Da den Autos die Zulassung fehlte, soll VW pro Pkw bis zu 37 500 Dollar, also maximal 22 Milliarden Dollar, zahlen. Für Wagen, die vor 2009 verkauft wurden, soll die Buße 32 500 Dollar betragen - es ist aber unklar, ob es solche Fälle gibt. Punkt 2: Noch einmal dieselben Summen verlangt das Ministerium für die Verwendung einer nicht angemeldeten Abgassteuerungssoftware. Punkt 3: Da die Software dazu diente, die Testergebnisse vorsätzlich zu verfälschen - die Amerikaner sprechen von einer "Defeat Device" - sollen pro Stück weitere 3750 Dollar fällig werden, also insgesamt 2,2 Milliarden Dollar. Punkt 4: Wegen fortlaufender Verstöße gegen Melde- und Informationspflichten verlangt die Regierung für jeden Tag seit dem Einbau unzulässiger Software Wiedergutmachung von erneut 37 500 Dollar, also bisher mindestens 100 Millionen Dollar.

Wie hoch fällt die Gesamtstrafe aus?

Das ist völlig offen. Rein rechnerisch ergibt sich für die Jahre 2009 bis 2016 eine Schadenssumme von bis zu 46 Milliarden Dollar (etwa 43 Milliarden Euro). Alle Erfahrung spricht aber dafür, dass am Ende ein Vergleich mit einer deutlich geringeren Buße stehen wird. Den japanischen Hersteller Toyota etwa verklagten die USA wegen Verstößen gegen Umweltgesetze auf die Zahlung von 58 Milliarden Dollar - am Ende blieb davon mit 34 Millionen Dollar nicht einmal ein Tausendstel übrig. Die koreanischen Autobauer Hyundai und Kia zahlten 2014 wegen Verstößen gegen den Clean Air Act insgesamt 100 Millionen Dollar.

Viel Lärm um nichts also?

Mitnichten, denn es gibt im Fall VW auch eine ganze Reihe Faktoren, die strafverschärfend wirken könnten. Dazu zählen, dass der Konzern in voller betrügerischer Absicht handelte und dass er die Aufklärung des Skandals zunächst hintertrieb. Finanzmarktexperten großer Banken wie Goldman Sachs, Merrill Lynch und UBS halten es deshalb für denkbar, dass Volkswagen allein die gerichtliche Auseinandersetzung mit den US-Behörden zwischen einer halben und 20 Milliarden Dollar kosten könnte. Ein warnendes Beispiel ist der britische BP-Konzern, der nach dem Umweltdesaster um die Ölplattform Deepwater Horizon in den USA 23 Milliarden Dollar Strafen und Vergleichskosten zahlen musste.

Hat VW durch sein Verhalten vor und seit Bekanntwerden des Skandals zu der jetzigen Zuspitzung beigetragen?

Aus US-Sicht gewiss. Nachdem die Universität von West Virginia (WVU) die Umweltämter EPA und Carb im Mai 2014 über viel zu hohe Abgaswerte bei Testfahrten mit VW-Diesel-Pkw unterrichtet hatte, verlangten die Behörden von Volkswagen Erklärungen. Laut Klageschrift reagierte der Konzern jedoch mit "ungenauen Darstellungen" und dem "bewussten Vertuschen von Fakten". Die VW-Abgesandten hätten die Prüfergebnisse der WVU immer wieder mit "noch zu klärenden technischen Punkten" begründet und monatelang behauptet, die Universität habe auf der Straße Dinge gemessen, die mit denen auf dem Prüfstand gar nicht vergleichbar seien. Erst im September gestanden sie demnach die Verwendung einer "Defeat Device" ein.

Kooperierte VW wenigstens dann?

Auch hier lautet die Antwort der US-Regierung: Nein! Dass etwa neben den Zweiliter- auch die Dreilitermotoren des Unternehmens mit einer Software versehen waren, die zu unterschiedlichen Abgaswerten auf der Straße und auf dem Prüfstand führten, habe der Konzern selbst dann noch bestritten, als er durch EPA und Carb bereits überführt gewesen sei, so das Ministerium. VW habe alle Bemühungen, die Wahrheit herauszufinden, "durch erhebliche Versäumnisse und irreführende Informationen behindert und blockiert".

Warum repariert VW die Autos der US-Kunden nicht endlich, um wenigstens jetzt guten Willen zu demonstrieren?

Die Abgasnormen in den USA sind strenger als in Deutschland, wo ein Software-Update und ein Luftverwirbler zu zehn Euro ausreichen, um die Behörden zufriedenzustellen. Bei VW schätzt man deshalb, dass auch Teile im Abgasstrang neu konstruiert und zugelassen werden müssen - sehr große Eingriffe also mit hohen Materialkosten und langer Werkstattzeit. Nach SZ-Informationen geht man konzernintern mittlerweile davon aus, etwa ein Fünftel der in den USA betroffenen Autos, also gut 115 000, wohl komplett zurücknehmen zu müssen - gegen Erstattung oder, was wirtschaftlich natürlich angenehmer wäre, in Form eines Umtausches, bei dem Alt-Besitzer deutlich vergünstigt einen neuen VW vor die Tür gestellt bekommen. Angeblich wollen die US-Behörden darüber noch im Januar entscheiden.

Welche Vorwürfe in der Klageschrift sind für Volkswagen besonders gefährlich?

In dem Papier weist die Regierung ausdrücklich auf die gesundheitlichen Gefahren von Stickoxiden hin. Diese tragen demnach zur Bildung von bodennahem Ozon bei, das Lungen-, Atemwegs- und Herzerkrankungen auslösen und "zum vorzeitigen Tod führen" kann. "Dem größten Risiko sind Kinder ausgesetzt", so das Ministerium. Einzelne Umweltinstitute haben bereits errechnet, dass VW durch die zusätzlichen Abgasemissionen rein statistisch gesehen für den Tod von bis zu 100 US-Bürgern verantwortlich ist. Es ist völlig ungewiss, ob sich das Gericht solche Berechnungen zu eigen machen wird, und, falls ja, was das für das Strafmaß bedeuten würde.

Sind mit der Zivilklage strafrechtliche Konsequenzen vom Tisch?

Nein, auch ein strafrechtliches Vorgehen ist weiter möglich. In früheren Fällen war der Verzicht auf eine Strafverfolgung allerdings oft Teil eines zivilrechtlichen Vergleichs zwischen den Parteien.

Wie geht es weiter?

Die Regierung hat ihre Klage im Bundesstaat Michigan eingereicht, wo die meisten US-Autokonzerne ihren Sitz haben und in dem auch die Volkswagen Group of America über eine Vertretung verfügt. Das Justizministerium dringt allerdings darauf, dass der Fall an das Bundesgericht in San Francisco weitergegeben wird, an dem auch die derzeit noch mehr als 500 Sammelklagen geschädigter VW-Kunden verhandelt werden sollen. Volkswagen sähe sich damit in einem einzigen großen Verfahren gleich zwei mächtigen Gegnern gegenüber.

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Quelle:
SZ vom 07.01.2016
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